02.03.2022

2021 wurden ein Drittel mehr Ehen geschieden als in den Jahren zuvor

Die Scheidungszahlen entwickelten sich während dem Coronajahr 2021 parallel zu den Anmeldungen in der Paar- und Familienberatung.

Von Reto Wälter
aktualisiert am 02.11.2022
148 Scheidungsverfahren wurden 2021 im Wahlkreis Rheintal abgeschlossen. Das entspricht einer Zunahme von 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr: 2020 wurden im Rheintal 110 Ehen geschieden. Im Vor-Coronajahr 2019 waren es 119, noch ein Jahr zuvor 118.Auch wenn die Zahlen mit Blick auf das letzte Jahrzehnt stets Schwankungen unterliegen, entsprechen sie der Entwicklung, die Stellenleiterin Yvonne Menzi bei der Paar- und Familienberatung Rheintal in Altstätten feststellte. «Beim ersten Lockdown 2020, im ersten halben Jahr, nahmen die Anmeldungen tatsächlich ab. Es gab einige Paare, die ihre Therapie abbrachen, weil sie in der neuen Situation eine Chance sahen», sagt die Paar- und Familienberaterin.«Für Paare, die noch Ressourcen hatten, war die Zeit, in der man enger zusammenrückte und Ablenkung von aussen fehlte, tatsächlich eine Chance, sich neu kennen zu lernen», sagt Yvonne Menzi. Sie hätten entdeckt, was der oder die andere leistet, dass noch viele Gemeinsamkeiten bestehen und sie so ihre Beziehung auf eine neue Ebene bringen können. «Die Bewährungsprobe folgt jetzt, wenn wieder alle verstärkt ihren eigenen Verpflichtungen nachgehen. Das ist eine ähnliche Situation, in der man nach der ersten Verliebtheitsphase steckt», sagt die Paarberaterin. Da sei es wichtig, dass man gemeinsame «Qualitätszeit» fixiere und bewusst pflege – aber eben auch eine gute Balance zu genug Freiraum finde.Zwei Jahre lang ein chronisches StressereignisIm zweiten Halbjahr 2020, nach dem ersten Lockdown, zogen die Anmeldungen in der Paar- und Familienberatung stark an. Und sie blieben hoch. Zurzeit bewegen sich die Zahlen auf dem Niveau der Vor-Coronazeit. Mit Ausnahme des ersten Lockdowns waren Beratungen  während der weiteren Lockdowns besonders stark gefragt. Bei Paaren, die sich schon vor der Pandemie entfremdet hatten, nahmen die Meinungsverschiedenheiten zu. Aggressionen verstärkten sich, Verletzungen brachen wieder auf. Die neue Situation und grössere räumliche Nähe führte zu mehr Konflikten.«Man kann die letzten zwei Jahre als chronisches Stressereignis bezeichnen», sagt Yvonne Menzi. Schon bei einzelnen provozierten Stressereignissen un­ter «Laborbedingungen» hätten die kognitiven Fähigkeiten der Testpersonen um 40 Prozent abgenommen. Wer mit einem solchen Tunnelblick un­terwegs ist, habe schon mit sich selber genug zu tun. «Unter solchen Bedingungen ist es sehr schwierig, noch Beziehungsarbeit zu leisten», sagt Menzi. Das brauche sehr viel Energie. Es ist gut möglich, dass auch deshalb im Jahr 2021 die Zahl der abgeschlossenen Eheschutzverfahren einbrach: 38 waren es ge­genüber 53 im 2020 und 50 im 2019 (2018 waren es 60). Diese Art der Trennung wird von Paaren oft als letzte Chance vor einer endgültigen Scheidung gesucht.Weniger Eheschutzverfahren gegenüber höheren Scheidungszahlen sprechen dafür, dass sich Paare 2021 konsequenter entschieden, gleich einen Schlussstrich zu ziehen – befeuert durch die erschwerten Lebensbedingungen der Coronazeit. Rechtlich kann ein Beziehungsteil ein Eheschutzverfahren verlangen und zwei Jahre später die Scheidung, obwohl die Partnerin oder der Partner nicht einverstanden ist.Ausschläge wie etwa nach Fasnacht fehlten«Ich bin gespannt, wie die Zahlen in den nächsten zwei Jahren aussehen», sagt Yvonne Menzi. Die Auswirkungen der schwierigen Zeit müssten sich auch zeitverzögert zeigen. So wie sich vor Corona die Anmeldungen bei der Familien- und Paarberatung an einen Rhythmus hielten.Die Zahlen schnellten jeweils nach der Fasnacht, der Offa und der Olma hoch, ebenso gab es nach Weihnachten mehr Beratungswünsche. Diese Ausschläge fehlten in den letzten zwei Jahren. Yvonne Menzi sagt: «Es hat mich verwundert, dass Anfragen als Folge von Seitensprüngen fast gänzlich fehlten.» Das Anbahnen von Seitensprüngen scheint sich, im Gegensatz zur Partnersuche, nicht in die sozialen Medien verlagert zu haben.Das Angebot ist stets ausgebuchtDieses Jahr feiert die Paar- und Familienberatung Rheintal ihr 40-jähriges Bestehen. Das Angebot ist stets ausgebucht. Nebst den Anmeldungen ist deshalb die Länge der Wartefristen eine Kennzahl, wie stark Beratungen nachgefragt werden. In der Regel dauert es um die zwei Mo­nate, bis ein erster Termin wahrgenommen werden kann. Während den letzten zwei Jahren, gab es Phasen, da betrug die Wartezeit über drei Monate. Zurzeit ist die psychiatrische und psychotherapeutische Un­terversorgung der Schweiz immer wieder Thema. Im Rheintal ist diese besonders hoch. Die langen Wartefristen widerspiegeln dies ebenfalls.Das Angebot in Altstätten umfasst professionelle psychologische Beratung für Einzelpersonen, Paare und Familien bei Lebens- und Beziehungsfragen und kritischen Lebensereignissen. Die Beratungsstelle steht allen Menschen unabhängig von Zivilstand, Einkommen und Religion offen. Die Beratungsstelle ist ein Angebot von katholischen und evangelischen Kirchgemeinden und politischen Gemeinden im Rheintal, dem katholischen Konfessionsteil und der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen. Die Beratung ist Teil des regionalen Netzwerkes Eheberatung Ostschweiz.