04.06.2019

55, ausgesteuert, hoffnungsvoll

Ein Jobverlust trifft einen Arbeitnehmer besonders hart, wenn dieser schon älter als 50 Jahre ist. Der Bundesrat will dem nun mit Massnahmen entgegenwirken. Ein Betroffener aus Appenzell Ausserrhoden erzählt.

Von Yann Lengacher
aktualisiert am 03.11.2022
«Ich hätte nie gedacht, dass es mich erwischen könnte», sagt Stefan Müller. Der Name des Mannes, der diese Worte von sich gibt, ist nicht wirklich Stefan Müller. Er ist ein freundlicher, «normaler» Mittfünfziger. Nur ohne Beschäftigung. Darum geben wir ihm einen ebenso normalen Namen. Denn Müller möchte anonym bleiben, wenn er erzählt, wie er jetzt lebt und wie es ihn erwischt hat. Seit August 2017 ist der Herisauer arbeitslos.Arbeitslosigkeit von über 50-Jährigen gab in letzter Zeit immer wieder zu reden. Die SVP entdeckte das Thema für den Wahlkampf. Der Bundesrat hat zudem vor kurzem Ideen präsentiert, mit denen er ältere Arbeitslose wieder konkurrenzfähig machen will(siehe Box). Plötzlich ein Fall für die SozialhilfeDer 55-jährige Müller ist gelernter Serigraf. Bis zu seinem letzten Arbeitstag hielt er der Druckerbranche die Treue. Ab 1988 arbeitete Müller nicht mehr direkt in der Druckerei und wechselte in den Verkauf. Seine Aufgabe war es, Aufträge zu beschaffen und so die Maschinen auf Trab zu halten. «Ich war immer sehr fleissig. Das macht es besonders schwierig, keine Arbeit zu haben», sagt Müller. Im Verlauf seiner Karriere war er bei verschiedenen Firmen tätig, auch weil in der Branche ein starker Strukturwandel für Unruhe sorgte.Seine letzte Anstellung dauerte drei Monate. Seit der Kündigung lebt der Herisauer von Sozialhilfe – mittlerweile ist er ausgesteuert. Schon einmal erlebte er eine längere Phase der Arbeitslosigkeit. Auf Arbeitslosengeld hat er nun keinen Anspruch mehr. «Dank Familienmitgliedern, die mich moralisch, aber auch mal mit einer Einladung zum Essen unterstützen, ist das Durchkommen einfacher», sagt der alleinstehende Müller. Seine Ausgaben beschränken sich auf die Miete für seine einfache Wohnung und Lebensmittel.Der Herisauer setzt seit dem Verlust seines Jobs alles daran, eine neue Stelle zu finden. In den letzten anderthalb Jahren hat er 220 Bewerbungen verschickt, in sämtliche Branchen. Seine Unterlagen hat er mit Hilfe eines Jobcoaches professionell gestaltet. Es ist aber nicht die Anzahl an Bewerbungen, die Müller zu denken gibt: «Das Schlimme daran ist, dass ich seit dem Verlust meiner Stelle zu keinem einzigen Vorstellungsgespräch eingeladen wurde.» Den Hauptgrund dafür sieht Müller in seinem Alter. Ans Aufgeben denke er aber nicht, dürfe er nicht. Für Müller ist es wichtig, einem geregelten Alltag zu folgen. Er steht früh auf. Durchforstet Stellenportale. Besucht regelmässig seinen Coach, geht einkaufen. Leicht fällt ihm das nicht immer: «Besonders am Morgen kommen extrem viele negative Gedanken. Braucht es mich denn nicht mehr? Wie geht es mit mir weiter?» Man müsse in dieser Situation mental stark sein. Mut macht sich Müller immer wieder mit einem Slogan: «Der SC Herisau hat dieses Motto ‹Nöd lugg lo gwünnt›. Ich glaube, dass ich etwas finde, wenn ich dranbleibe.» Doch hätte Müller diese Situation vermeiden können? Aus seiner Sicht nicht. «Ich ging nie leichtsinnig mit der Arbeit um. Dass ich selbst schuld bin an der Situation, würde ich nicht unterschreiben.» Auch habe er immer wieder Weiterbildungen besucht.Arbeitslosigkeit, das TabuthemaIm Bekanntenkreis von Müller weiss man um seine Situation. Die Frage, ob Arbeitslosigkeit ausserhalb dieses Zirkels ein gesellschaftliches Tabuthema ist, bejaht der Herisauer. «Man leidet mit uns mit, aber verdrängt das Thema. Die Zahlen in der Schweiz sprechen ja gegen einen, sie sagen, dass wir der Vollbeschäftigung sehr nahe sind.» In der Tat: Im April verzeichnet das Seco für den Kanton Appenzell Ausserrhoden eine Arbeitslosenquote von 1,6 Prozent, schweizweit sind es 2,4 Prozent. Enthalten in dieser Statistik sind aber nur beim RAV gemeldete Arbeitslose. Ausgesteuerte wie Stefan Müller fehlen darin.Der Bundesrat hat kürzlich Massnahmen beschlossen, um die Zahl der Arbeitslosen im Alter 50 plus zu senken. Diese sehen auch Laufbahnberatungen und -analysen vor. Für Müller wäre ein anderer Lösungsansatz besser: «Wir Alten sind einfach zu teuer. Sinnvoll wäre es, die Pensionskassenbeiträge für ältere Arbeitnehmer zu senken.» Dann nämlich hätten auch Ältere wieder Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Denn eigentlich könne jeder Betrieb von älteren Mitarbeitern profitieren: «Wir bringen ein gewisses Know-how mit. Ein Arbeitgeber muss in uns nicht mehr so viel investieren wie in einen jüngeren Arbeitnehmer.» Ausserdem sei man als älterer Angestellter loyaler, wolle beispielsweise nicht mehr auf Reisen wie die jüngeren Kollegen.Am Ende des Gesprächs möchte Müller mit einer Behauptung aufräumen, die aus seiner Sicht ein Mythos ist: «Wir Älteren sind nicht weniger leistungsfähig. Ich würde an einem neuen Ort Vollgas geben, wie eh und je.»