13.08.2019

«Es darf keine Obdachlosen geben»

Während mehrerer Tage nächtigte ein Mann an einer Bushaltestelle auf einer Bank. Passanten liess das nicht kalt.

Von Andrea C. Plüss
aktualisiert am 03.11.2022
Andrea C. PlüssAn der Stossstrasse, auf Höhe der Migros und der Apotheke, befindet sich eine Bank an der Bushaltestelle. Sitzt tagein, tagaus dieselbe Person auf dieser Bank und legt sich nachts dann einfach auf ihr nieder, geht das in Altstätten nicht in der Anonymität unter. Man kennt sich dort.Der Mann jedoch, der sich Ende Juli während der Hitzetage auf dieser Bank eingerichtet hatte, war den Passanten nicht bekannt. «Mehrere Personen meldeten sich bei uns und machten uns auf den Mann aufmerksam», teilt Angelina Schick, Mitarbeiterin in der Stadtkanzlei, auf Nachfrage mit. Eine Leserin hatte auch die Redaktion auf den Fall aufmerksam gemacht.«Der Mann hat einen Bezug zum Rheintal»Bei der Kantonspolizei St. Gallen seien ebenfalls mehrere Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, sagt Mediensprecher Hanspeter Krüsi. Und weil eben keiner der Hinweisgeber aus Altstätten den Mann auf der Bank kannte, wurde die Polizei aktiv. Ein Polizist habe mit dem Mann gesprochen und ihn schliesslich überreden können, sich zur Untersuchung ins Spital bringen zu lassen. Dies sei in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli geschehen, so Krüsi. Um einen Obdachlosen im eigentlichen Sinne handle es sich bei dem Mann, dessen Alter der Mediensprecher mit ca. 40 Jahren angibt, nicht. «Der Mann hat einen Bezug zum Rheintal, ist aber im Kanton Zürich gemeldet.» Zudem habe der 40-Jährige einen Beistand in Zürich; ein Alkoholproblem spiele auch eine Rolle. Der Mann habe sich am 25. Juli selbst aus dem Spital entlassen, erläutert Krüsi.Mittellos sei der Mann nicht. Er verfüge über Geld. Mehrere Passanten hätten ihm zudem Essen und Geld gegeben. «Er will obdachlos sein», fasst der Mediensprecher der Kantonspolizei den Vorfall zusammen. Da sich der Mann frei bewegen dürfe, nehme man das so zur Kenntnis.Solidarität statt AnonymitätWährend in Grossstädten viele einen grossen Bogen um Randständige oder Obdachlose machen, die auf platt gedrückten Kartonschachteln am Boden sitzen oder in Hauseingängen liegen, fällt ein Fremder auf einer Bank in Altstätten den Einheimischen auf. Und nicht nur das, sie handeln auch, geben Geld und Essen, informieren die Stadtverwaltung und die Polizei. «Die Solidarität im Rheintal ist gross», kommentiert Roman Zimmermann, Leiter des Sozialamts Altstätten, die Reaktionen seitens der Bevölkerung. Was die Frage aufwirft, ob es überhaupt Obdachlose im Rheintal gibt? «Wer sich helfen lassen will, ist nicht obdachlos», sagt Zimmermann.Seit zwei Jahren habe man keinen solchen Vorfall wie den gemeldeten gehabt. Die Bank an der Bushaltestelle vor der Migros sei beliebt bei denen, die den Tag über nicht wüssten wohin. «Beim Bänkli läuft immer was.»Fünf Fälle von Obdachlosigkeit hat das Sozialamt Altstätten in den letzten neun Jahren bearbeitet. In zwei Fällen lag bei den Betroffenen Alkoholmissbrauch vor, ein Jugendlicher musste aus dem Elternhaus heraus, eine Person sei psychisch krank gewesen, eine andere hatte den Zustand der Obdachlosigkeit freiwillig gewählt, gibt der Amtsleiter an. Am Anfang aller Hilfe steht auch die Klärung der Zuständigkeit. In der Regel ist die Gemeinde zuständig, in der die unterstützungsbedürftige Person zivilrechtlich gemeldet ist. Liegt der Lebensmittelpunkt in einer anderen Gemeinde oder wurde eine Ab- oder Anmeldung nicht ordnungsgemäss vollzogen, wird das Zuständigkeitsgesetz angewandt, um festzustellen, welche Gemeinde für allfällige Massnahmen verantwortlich ist.Das Sozialamt Altstätten kann bei der Wohnungssuche auf Mietobjekte der Stadt zurückgreifen, sofern dort etwas frei ist. Ein bis zwei Vermieter günstiger Wohnungen seien dem Sozialamt bekannt, ansonsten arbeite man mit der Heilsarmee zusammen, die in Amriswil begleitetes Wohnen für Menschen mit Suchtmittelabhängigkeit anbiete und in Rheineck weitere Übernachtungsmöglichkeiten, gibt Roman Zimmermann an.Die Notunterkunft kostet auchEine Übernachtung in sozialen Einrichtungen der Heilsarmee ist allerdings nicht kostenlos und muss von den dort Untergebrachten selbst bezahlt werden. «Eigentlich darf es keine Obdachlosigkeit geben, wenn man unsere Sozialsysteme anschaut», sagt Zimmermann. Arbeitslosigkeit oder eine Trennung könnten jedoch schnell einmal zum Verlust der Wohnung führen, weiss auch der Sozialamtsleiter.Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben, werden auch bei den Sozialen Diensten Oberes Rheintal SDO vorstellig, sagt Geschäftsführer Pascal Stahel, die Zahl sei aber gering. Der Zweckverband wird von der Stadt Altstätten und den Gemeinden Eichberg, Marbach, Oberriet, Rebstein und Rüthi getragen.«Die Gründe für eine Obdachlosigkeit sind vielfältig. Meist handelt es sich um kurzfristige Notsituationen, die gelöst werden können», sagt der SDO-Geschäftsführer. In der freiwilligen Beratung sei die Hilfe auf das Ausdrucken von Inseraten und Unterstützung beim Ausfüllen einer Bewerbung für eine Wohnung beschränkt. «Wird bei den SDO im Rahmen der gesetzlichen Sozialberatung eine Beistandschaft geführt, ist die Unterstützung meist umfangreicher», ergänzt Pascal Stahel. Mittellose Personen melde man dem zuständigen Sozialamt.Der Mann, der Ende Juli für einige Tage auf der Bank an der Bushaltestelle schlief, scheint verschwunden. «Er ist nicht mehr gesehen worden», gab der Altstätter Sozialamtsleiter Roman Zimmermann vor wenigen Tagen an. Zweittext:Soziale WohnbegleitungDie Sozialen Dienste Mittelrheintal SDM haben am 1. Januar ein zweijähriges Pilotprojekt gestartet, das sich «Soziale Wohnbegleitung Contact» nennt. Die Kontakt- und Anlaufstelle der SDM ist ein niederschwelliges Angebot im Einzugsgebiet der Gemeinden Au, Berneck, Balgach, Widnau und Diepoldsau. «Unsere Klienten haben Probleme im Alltag, die meisten haben Probleme mit legalen oder illegalen Drogen», beschreibt Stephan Conza, Leiter Contact, die Klienten im Alter zwischen 25 und 65 Jahren, die sich in den Räumen an der Berneckerstrasse in Heerbrugg einfinden.Aktuell sei keiner dieser Personen obdachlos, aber Fälle von Obdachlosigkeit zwischen sechs und 10 Monaten habe es in der Vergangenheit immer mal wieder gegeben, sagt Conza. Wer suchtmittelabhängig ist, kann schnell in finanzielle Schieflage geraten, der Verlust des Arbeitsplatzes und oft auch der Wohnung ist nicht selten. «Wer ohne Wohnung ist, hat keine Meldeadresse mehr und kann sich nicht einfach beim Sozialamt anmelden», so Conza. Eine Situationsanalyse zur Wohnungssituation im Rheintal wurde im Rahmen einer Studienarbeit an der Fachhochschule St. Gallen erstellt. Bei der sozialen Wohnbegleitung unterstützen Mitarbeiter von Contact Personen im Alltag mit dem Ziel des Wohnungserhalts. Der Ansatz «Housing First» auf Deutsch etwa: «zuerst kommt die Wohnung» stammt aus den USA.7997 Kontakte verzeichnete die Anlaufstelle im Jahr 2018. (2016 waren es noch 6578). Etwa 35 Personen suchen die Anlaufstelle, in der es mittags auch gratis eine warme Mahlzeit gibt, täglich auf. (acp)