08.03.2021

Vom Kontrolleur zum Vertrauten

Intensive Erlebnisse am Zoll: Von herzzerreissend traurig über gespenstisch bis zu entschleunigend angenehm.

Von Reto Wälter
aktualisiert am 03.11.2022
Der Grenzabschnitt Rheintal-Süd erstreckt sich von Widnau bis nach Rüthi-Büchel. Stützpunkt ist der Grenzwachtposten in Diepoldsau. Diese Zollstelle war als einzige in diesem Abschnitt 24 Stunden besetzt. Die Grenzübergänge Widnau, Schmitter, Kriessern, Montlingen, Oberriet und Büchel werden mobil von einem der vier Teams abgedeckt.Auf die Pandemie zurückgeblickt hat Einsatzleiter Martin Tschirren. Der 45-jährige Wachtmeister arbeitet seit 18 Jahren bei der Grenzwache und war dabei stets im Rheintal stationiert. Er lebt in Montlingen in einer Partnerschaft und ist Vater von drei Kindern.Erste Welle«Die Schweiz war zu, abgeschlossen, abgeriegelt», schaut Martin Tschirren, Einsatzleiter des Grenzwachtpostens Rheintal-Süd, zurück und erklärt: «So fühlte es sich an, wenn wir den Kriessner Zoll am Abend mit Gittern und Schlössern zusperrten. Das war sehr merkwürdig, weil es das vorher nie gab und die Grenzen offen waren.» Nebst dem 24-Stunden-Betrieb des Zollamts Diepoldsau war Kriessern der einzige Grenzübergang im Gebiet von Widnau bis Rüthi-Büchel, der tagsüber offen war. Das «Rohr» in Widnau, also die grüne Grenze, wurde mit Gittern und Absperrbändern geschlossen und es wurde darauf hingewiesen, dass ein Grenzübertritt verboten ist. Zudem patrouillierte täglich ein Helikopter der Schweizer Armee der Grenze entlang. Kaum Verkehr auf den Strassen, die breiten Autobahnen leer. «Apokalyptisch sah das aus, sehr eindrücklich», erinnert sich Tschirren.Sehr emotional waren die Szenen, die sich abspielten, als die Grenzen geschlossen wurden. «Da haben sich Leute voneinander verabschiedet und wussten nicht, wann sie sich das nächste Mal sehen. Etwa der Vater von ennet der Grenze, der seinen Kindern auf Wiedersehen sagte. Es sind viele Tränen geflossen in dieser Zeit», sagt Martin Tschirren.Sehr oft hätten die Leute auch Sachen gebracht. Oft banale Dinge, die einfach noch auf die andere Seite mussten, etwa Schulsachen oder Kleider, aber auch Geburtstagsgeschenke, Osternester für Grosskinder und Partner. «Wir haben am Zoll natürlich geholfen, einen Platz eingerichtet, wo man die Dinge hinstellen konnte, und auch Gespräche zugelassen. Da mussten wir einfach helfen, das war wichtig», sagt der Wachtmeister. Er erinnert an die Schneise im Rheinvorland, auf deren beiden Seiten sich die Bekannten über das Absperrband hinweg unterhalten konnten. «Es war ergreifend mitzubekommen, was diese räumliche Distanz zwischen emotional verbundenen Menschen anrichtete, zumal zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, wie sich das Ganze entwickelt», erinnert sich Martin Tschirren.Er nahm aber auch positive Veränderungen wahr: «Die Solidarität untereinander wurde grösser, nach dem Motto: ‹Wir sitzen alle im selben Boot.›» Bei Patrouillen im Rheinvorland wurden die Grenzwächter oft angesprochen, die Leute suchten geradezu den Kontakt. Etwas, das vorher selten bis nie passierte. «Ich glaube, wir verkörperten für die Leute ein Bundesorgan, wurden als Vertreter von Bern angesehen. So wurden wir vom Kontrolleur zum Ansprechpartner», sagt Einsatzleiter Tschirren. Und die Grenzwächter hatten Zeit, auf die Leute einzugehen. Denn der Grenzverkehr war weitgehend eingestellt. Es gab keinen Einkaufstourismus, keine Rushhour und auch der Lastwagenverkehr ging stark zurück.[caption_left: Der Kriessner Zoll wurde während der ersten Welle jeden Abend abgesperrt und geschlossen. Tagsüber wurde der Verkehr auf zwei Zollämter im Abschnitt kanalisiert.]«Diese Entschleunigung tat gut, der Fokus lag bei den Kontakten auf dem Zwischenmenschlichen. Das war angenehm», blickt Wachtmeister Martin Tschirren zurück. In dieser Zeit gab es keinen Kriminaltourismus von Banden aus dem Osten und auch die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität blieb aus, da jedes einzelne Auto kontrolliert wurde. Was nicht ruhte, war der Betäubungsmittelkonsum und damit der Handel. «Wir wissen, dass etwa Heroin in grösseren Mengen in die Schweiz kommt und von hier in kleineren Mengen unter anderem nach Österreich gebracht wird», sagt Tschirren. Diese Versuche habe es auch während des Lockdowns gegeben, sowohl an den verriegelten Zollstellen selber als auch im Zwischengelände.ZwischenzeitIm Sommer nach der Öffnung der Grenzübergänge explodierte der Einkaufstourismus nach Vorarlberg gleich wieder. «Gefühlsmässig war er sogar stärker als zuvor. Die Leute hatten wohl Nachholbedarf, gerade was Materialien aus Baumärkten betrifft», sagt der Grenzwächter. Auch sonst gab es spürbar Mehrarbeit, etwa mehr zu verzollen. Der LKW-Verkehr war höher als vor dem Lockdown – Materiallager wollten aufgefüllt werden, die Produktion zog wieder an. Der Transitverkehr nahm nicht so stark zu und auch der Nord-/Süd-Ferienverkehr fiel geringer aus als in anderen Jahren – was damit zusammenhing, dass in Italien, das von der Pandemie stark betroffen war, immer noch strenge Vorschriften galten.Zweite Welle«Seit Dezember bleibt der Einkaufstourismus aus – und damit hat es wieder viel weniger Verkehr», sagt Martin Tschirren vom Grenzwachtposten Rheintal-Süd in Diepoldsau. Anders als im Frühling ist, dass der Grenz-Zwischenbereich nicht mehr abgeriegelt ist. Die Gastarbeiter aus Drittländern können einfacher ein- und ausreisen. Damit ist auch der Kriminaltourismus aus dem Osten zurück. Aber der Einsatzleiter sagt: «Weniger Verkehr heisst weniger aussortieren. Das macht es für uns einfacher.» Auch in Sachen organisierter Kriminalität im Grenzbereich erkenne man bei dieser ruhigen Verkehrslage viel mehr. «So kommen wir besser an die grossen Fälle, denn vorwiegend die interessieren uns.» Schliesslich gehöre es zu ihrer Arbeit, für das Land zu schauen, von dem sie angestellt seien.Den Grenzwächtern ist bewusst, dass sie beobachtet werden, Vorfahrer unterwegs sind und Versteckspiele stattfinden. Tschirren gibt ein Beispiel: Auf dem praktisch leeren Parkplatz des Restaurants Habsburg stand ein Auto, der Mann darin telefonierte als die Grenzwachtpatrouille vorbeifuhr. Bei geöffnetem Restaurant nichts Ungewöhnliches – zurzeit fällt es auf. Die Grenzwächter entdeckten dann auf Österreicher Seite einen ebenfalls im Auto telefonierenden Mann, der an der Strassenseite parkiert hatte. Sie passten ihn ab und fanden einen Kofferraum voller Weinflaschen – unverzollt eingeführt.Ausblick«Ich hoffe, dass der Grenzverkehr auch in Zukunft etwas ruhiger und entschleunigter abläuft», sagt Martin Tschirren und erklärt: «Zurzeit profitiert der Schweizer Detailhandel vom geringeren Einkaufstourismus. Ich würde mir wünschen, dass es so bleibt und die Schweizer ihr Geld dort investieren, wo sie wohnen und arbeiten.»Unsere Serie zeichnet chronologisch nach, was sich für die Menschen aus der Region in den einzelnen Phasen der Pandemie verändert hat.