10.04.2018

Bei Kündigung geahnt: «Das war’s»

«Felix, du bisch z’tüür, du muesch goh.» Mit diesem Satz endete das Berufsleben des Balgachers Felix Mühlebach, als er sechzig war. Es folgten über hundert Bewerbungen, aber kein einziges Vorstellungsgespräch.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert Bruderer«Mit sechzig nicht abserviert werden»: Unter diesem Titel wurde Ende Februar über einen Anlass berichtet, an dem hundert Mitglieder des Arbeitgeberverbandes Rheintal sich mit dem Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer befassten. Zwangs­läufig kam auch die missbräuchliche Kündigung zur Sprache. Felix Mühlebach hatte sich einen Anwalt genommen, sich aber vergeblich gewehrt; die Kündigung wurde als zulässig gewertet. Ein Sieg hätte auch wenig geholfen. Denn anders als im starken Schweizer Mietrecht wird eine missbräuchlich ausgesprochene Kündigung des Missbrauchs wegen nicht hinfällig.In jener Zeit sei es ihm «unglaublich dreckig» gegangen, sagt Felix Mühlebach. Ein paar Jahre vor dem Übertritt in den Ruhestand gehen zu müssen, ohne sich eines Fehlers bewusst zu sein, sei ein Schlag ins Genick.Lieber frühpensionieren als Geld beziehenDer gelernte Spediteur, der sich zum diplomierten Verkaufsleiter weiterbildete, arbeitete im Laufe seines Lebens bei einem halben Dutzend Firmen. Seine letzte Stelle als Marketing- und Verkaufsleiter sowie Geschäftsleitungsmitglied hatte er seit gut vier Jahren bei einem Hersteller von Aluminiumtuben. Der Eurokurs, sagt Felix Mühlebach, habe das Unternehmen unter Druck gesetzt. Eine jüngere Arbeitskraft habe als «kostengünstigere Alternative» seinen Job übernehmen können. Ironie des Schicksals: Der Entlassene hatte den Nachfolger selbst eingearbeitet.Noch am Tag der Kündigung habe er sich beim RAV gemeldet, sagt Felix Mühlebach, dessen Vorname aus dem Lateinischen kommt und «vom Glück begünstigt» bedeutet. Er wollte alles richtig machen, begann sogleich mit der Jobsuche, doch er ahnte schon: «Das war’s.»Finanziell ist er auf zweieinhalb Jahre hinaus abgesichert, bis im April 2019, dann wird Felix Mühlebach ausgesteuert. Sozialhilfe möchte er nicht. Dann lieber frühpensionieren.Der Vater von vier erwachsenen Kindern hat zwar gut verdient, aber nicht so viel Erspartes, dass er entspannt seinem letzten Lebensabschnitt entgegensieht. Womöglich müsse er die Wohnung, die er hat, verkaufen. Er wäre in guter Gesellschaft, denn viele der älteren Menschen, die den Job verlieren, landen nach dem Bezug der Arbeitslosengelder nicht bei der Sozialhilfe, sondern überbrücken die Zeit bis zur Pensionierung zwangsläufig mit ihrem Vermögen. Die Sozialhilfe zahlt erst, wenn das Vermögen fast vollständig aufgebraucht ist.Er wäre mit weniger zufrieden gewesenFelix Mühlebach hat gut ver­-dient. Angesichts wirtschaftlichen Drucks hätte er es verstanden, wäre sein letzter Arbeitgeber mit dem Vorschlag an ihn herangetreten, das Arbeitsverhältnis zu tieferem Lohn fortzuführen. Aber das sei nicht mal erwogen worden.«Ich fiel in eine Depression», sagt Felix Mühlebach, «und das war, so paradox es klingen mag, meine Rettung.» Denn der Austritt aus der Firma verzögerte sich krankheitshalber. Schliesslich hatte Felix Mühlebach das Alter 61 erreicht, was den Anspruch auf mehr Arbeitslosentage bedeutete.«Und dänn gheiet Sie in e Loch ine»Genauso wenig wie er selbst Sozialhilfe beanspruchen möchte, sollten Unternehmen ein Kostenproblem auf den Staat abschieben, sagt der bald 63-Jährige. Sogar für die Angabe eines Kündigungsgrundes habe er kämpfen müssen, schliesslich habe er ihn bekommen.Umstrukturierung habe es geheissen, obwohl überhaupt nichts umstrukturiert worden sei. «Und dänn gheiet Sie natürli scho in e Loch ine», sagt er. «Existenzangst macht sich breit.» Zum Glück habe die Gattin noch einen Job und ihn mental unterstützt.Es kam nie zu einem VorstellungsgesprächNach dem Stellenverlust be­zahlte Felix Mühlebach einen Profi, der ihn bei der Stellensuche begleitete, jemanden, der auf Arbeitskräfte mit höherem Alter spezialisiert ist. Eine bestehende Konkurrenzklausel habe die Suche nicht leichter gemacht, und die Reaktionen der Firmen seien ernüchternd gewesen.Erkundige man sich nach einem Job, heisse es nie «Nein, keine Chance, oder ähnlich», stets laute die Antwort «Wir melden uns, wenn …»Aber das Wenn gibt es nicht. Zumindest nicht für Felix Mühlebach.Nie habe eine Firma widerlegt, dass hinter den gewohnten Beteuerungen und vagen Versprechungen mehr stecke als eine Floskel. Und die schriftlichen Bewerbungen führten zu Antworten wie dieser: Man habe die interessanten Unterlagen erhalten und geprüft, aber leider.Zu einem Vorstellungsgespräch ist es nie gekommen. Ein Stellenvermittlungsbüro bat den Stellensuchenden einmal, von weiteren Schreiben an das Büro abzusehen.Immer die gleichen Antworten gehörtFelix Mühlebach sagt, mit der Zeit hätten die immer gleichen Antworten aufgehört, ihn zu deprimieren. Ein Schuss Zynismus als Selbstschutz hat ihm ein wenig geholfen.Das Wissen, dass jemand, der seine Stelle mit 58 verliert, noch schlimmer in den «faulen Rank» kommt als er selbst, ist ihm kein Trost. Im Gegenteil. Es ärgert ihn.Ein Lichtblick ist ihm der kürzlich publik gewordene Vorstoss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Sie fordert, dass über 55-Jährige nicht mehr von der ALV ausgesteuert werden, wenn sie mindestens zwanzig Jahre gearbeitet haben. Sie sollen nach Bezug der ordentlichen Taggelder bei der ALV versichert bleiben, wenn auch nicht mehr zu achtzig oder siebzig Prozent des früheren Lohnes.Schlechte Aussicht auf dem ArbeitsmarktAuf das grosse Potenzial der Älteren für die Wirtschaft wird zwar seit Jahren verwiesen, gerade auch von den Arbeitgebern. Doch ältere Arbeitslose haben es auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor besonders schwer.Mehr als die Hälfte der über 55-Jährigen, die ihren Job verlieren, findet innerhalb eines Jahres keine neue Arbeit. Zudem sind ältere Arbeitslose überdurchschnittlich gefährdet, aus der Arbeitslosenversicherung (ALV) ausgesteuert zu werden, also gar keinen Job mehr zu finden. Die Skos bezeichnet die Entwicklung als dramatisch.Nach der Aussteuerung findet bloss jeder siebte über 55-Jährige wieder eine feste Anstellung. Diese geringe Chance auf Wiedereingliederung nennt Felix Wolffers, Co-Präsident der Skos, «eine Schande», wie der «Zürcher Tagesanzeiger» am 23. Februar schrieb. Felix Mühlebach wehrt sich auf seine eigene Art. Er ist mit über sechzig noch der SP beigetreten.