08.06.2018

Der Einkaufszeitgeist

Während der Weltmeisterschaft werden Fussballfans bis zu später Stunde Verpflegungsnachschub besorgen können. Viele Läden haben lange geöffnet. Sie spiegeln ein verändertes Einkaufsverhalten wider.

Von Remo Zollinger
aktualisiert am 03.11.2022
Remo ZollingerGanz gleich, wer gefragt wird: Die Antwort, weshalb heute so viele Läden lange geöffnet sind, ist stets die gleiche. Das Einkaufsverhalten der Leute habe sich verändert, heisst es. Hier könnte man die Huhn-oder-Ei-Frage stellen: Was war zuerst da, das neue Einkaufsverhalten oder die längeren Öffnungszeiten? Eine schlüssige Antwort gibt’s wohl kaum. Ein relativ neues Phänomen sind sie aber schon, die Tankstellenshops, die Dorf- und Bahnhofläden, die bis spät geöffnet sind und in denen man fast alle Artikel des täglichen Bedarfs findet. Zutaten für ein einfaches Abendessen, wenn der Kühlschrank leer ist. Oder eine Zahnpasta. Oder diverse Genussmittel.Dies freut demnächst speziell die Fussballfans. Die meisten WM-Spiele werden um 14, 17 oder 20 Uhr angepfiffen. Haben sich die Vorräte bis zur zweiten Pause dem Ende zugeneigt, kann einfach Nachschub besorgt werden. In Lüchingen gibt’s sogar einen 24-Stunden-Automaten mit frischem Fleisch für die, die Wert auf Metzgereiprodukte legen.Nur drei Gemeinden haben keinen SpäteinkaufsladenWeit fahren muss dafür niemand. Im Einzugsgebiet dieser Zeitung gibt’s in elf von 14 Gemeinden Läden, die bis mindestens 21 Uhr geöffnet sind. Keinen gibt es in Eichberg, Berneck und Marbach (wobei die Coop-Tankstelle in Lüchingen nur einen Katzensprung entfernt ist). Vier Anbieter tun sich besonders hervor: Coop Pronto, Migrolino, Volg und Go Poschta.Go Poschta mit Läden in Widnau und Au begründet die Entscheidung, täglich von 6 bis 21 Uhr (sonntags von 7 bis 21 Uhr) geöffnet zu haben, schon mit dem Werbeslogan. «Leben nach dem Lustprinzip», heisst er und sagt aus: Es muss kein Frust sein, spät noch einkaufen zu gehen. Es kann auch Lust sein, etwa wenn man sich für etwas anderes zum Abendessen entscheidet und dies auch noch findet. Oder man spontan Besuch bekommt und diesen dank der Einkaufsmöglichkeit verwöhnen kann.Frisches Brot ist auch am Abend noch gefragtDie Konzepte von Coop Pronto und Migrolino sind ähnlich. Sie sind an stark frequentierten Orten wie Tankstellen und Bahn­höfen und setzen auf Gelegenheits- und Kleineinkäufe. Sabine Schenker von Coop Mineralöl begründet das Einkaufsverhalten so: «Die Kunden haben immer weniger Zeit für den Einkauf. Immer mehr Frauen kombinieren Mutterschaft und Beruf, weshalb weniger Zeit zum Kochen bleibt. Die klassischen drei Mahlzeiten am Tag gibt es nicht mehr.»Besonders geschätzt werde Frisches, auch spätabends sei Brot noch gefragt. Coop war wegen seiner Maxime, bis Ladenschluss frisches Brot anzubieten, auch schon im Fadenkreuz des Presseboulevards gelandet. Dies, weil das grosse Frischeangebot viele Essensabfälle verursachen kann. Coop verteidigte sich im letzten Sommer, es gebe in seinen Filialen nicht mehr überschüssiges Brot als in einer Dorfbäckerei. Weil Backwaren von den Mitarbeitenden aufgebacken werden könne, hätten es diese im Griff, nicht zu viel Abfall zu produzieren. Zudem sei es die Entscheidung der Kunden, ein Bedürfnis entstehen zu lassen oder nicht. Sabine Schenker sagt: «Unser Konzept entspricht dem Zeitgeist.»Das stimmt. Aber der Zeitgeist hat nicht immer nur positive Auswirkungen.Erweiterte Ladenöffnungszeiten gelten gemäss Artikel 9 und 10 des kantonalen Gesetzes über Ruhetag und Ladenöffnung für Läden, die hauptsächlich Lebensmittel anbieten und höchstens 120 Quadratmeter Fläche besitzen. Sie dürfen von Montag bis Samstag von 5 bis 22 Uhr, an Sonn- und Feiertagen von 7 bis 21 Uhr geöffnet sein.Volg bringt eine weitere Dimension ins SpielNicht zu dieser Art Läden ge­- hört der Migrolino am Altstätter Bahnhof, der neu auch sonntags bis 22 Uhr geöffnet ist. Er fällt in die Kategorie der SBB-Nebenbetriebe und muss seine Öffnungszeiten nur mit der Bahn aushandeln. «Das Eisenbahnunternehmen bestimmt, was in der von ihr zur Verfügung gestellten Infrastruktur gilt. Das kann von Bahnhof zu Bahnhof unterschiedlich sein», heisst es beim kantonalen Amt für Wirtschaft und Arbeit auf Anfrage.Damit ist auch beantwortet, weshalb es in grösseren Bahnhöfen Läden oder Restaurants gibt, die teils 24 Stunden lang geöffnet sind. Fastfood-Ketten etwa profitieren gern von Leuten, die im Ausgang Hunger bekommen und sich auf dem Heimweg noch einen Snack gönnen.Dass Volg-Läden bis 21 Uhr geöffnet sind, ist relativ neu. Und es lohnt sich. «Dank der verlängerten Öffnungszeiten konnten viele Läden Umsatz, Kundenzahl und Ertrag deutlich steigern. Ehemalige Schliessungskandi­daten konnten gerettet, die Einkaufsmöglichkeit im Dorf gesichert werden», sagt Corinne Kutter von Volg. Die Läden sind primär in ländlichen Gebieten mit wenigen Einkaufsmöglichkeiten anzutreffen, etwa im Appenzeller Vorderland. Auch in Wolfhalden können die Leute bis 21 Uhr einkaufen gehen, in Oberegg bis 20 Uhr.Um 19 Uhr schliessen müssen Läden, die die Maximalgrösse für lange Öffnungszeiten überschreiten. Würden sie auf den Zug aufspringen? «Wir müssten wohl», sagt Markus Alt vom Rebster Markt. Er ist sicher, längere Öffnungszeiten hätten einen Dominostein-Effekt zur Folge. Wer da nicht mitmacht, verliert. Alt würde seinen Laden aber lieber früher öffnen als später schliessen: «Könnte ich, würde ich um 6 Uhr aufmachen.» Viele würden an Tankstellen ein Brötchen und einen Kaffee kaufen – sie würde der Rebster Markt mit seinem Café abholen wollen.Markus Alts Ausführungen zeigen: Der Konkurrenzkampf im Detailhandel ist durch verändertes Einkaufsverhalten und längere Öffnungszeiten mehrdimensionaler geworden. Grossverteiler setzen auf Convenience-Shops und haben Erfolg. Kleinere wie Go Poschta ziehen nach, weil es sich lohnt. Dabei kämpfen sie um den gleichen Franken: Der Kunde wird ihn nur an einem Ort ausgeben können. So greift trotz aller Neuerungen die älteste Regel: Das beste Angebot gewinnt. Es ist an den Läden, dieses anzubieten, damit der Franken bei ihnen landet. Das Wettrüsten ist in vollem Gang, denn weniger werden die Läden zurzeit sicher nicht.