18.10.2020

Der Poker ging nicht auf

Thomas Litscher ging an der EM im Tessin in die Offensive und büsste dafür. Aber es war seine einzige Option.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 03.11.2022
Dass der neue Europameister Nino Schurter zu Beginn etwas nervös wurde, lag auch an Litscher: Die Spitzengruppe blieb gross und der 31-jährige Thaler war nach Schurter und mit dem 23-jährigen Tessiner Filippo Colombo der Aktivste.Sein Ziel war ein Top-10-Platz. Aber wie Thomas Litscher fuhr, liess erkennen, dass er eher eine Medaille im Sinn hatte. Er verschärfte zu Beginn der dritten Runde das Tempo. Litscher ging also «All In», wie es beim Poker heisst, wenn ein Spieler alle seine verbleibenden Chips in den Pot wirft. Das ist wohl seine einzige Chance angesichts der derzeitigen Leistungsdichte bei den Männern. Blöd war nur, dass Schurter und der knapp geschlagene Franzose Titouan Carod sowie Bronzegewinner Mathias Flückiger den Bluff durchschauten: Sie hatten das bessere Blatt, bzw. die besseren Beine.Thomas Litscher gibt Micha Jegge, Leiter Kommunikation bei Swiss Cycling, Auskunft über seinen Renneinsatz.Litscher ging «All In», aber der Bluff wurde aufgedecktLitscher sagt, er habe einen «Hänger» gehabt. Deshalb fiel er aus der Medaillenentscheidung. Weil er sich aber wieder fing, schien der begehrte Top-10-Platz weiterhin möglich. Ein Fahrfehler, der zu einem platten Reifen führte, verhinderte, dass Litscher auch sein offizielles Ziel erreichte.Der 16. Rang an der EM entspricht nicht Litschers Vorstellungen. Zusammen mit der völlig verpatzten WM (59. Platz) wäre es ein Leichtes, seine Coronasaison 2020 in ein schlechtes Licht zu rücken. Aber das würde seinen Leistungen nicht gerecht: In Nove Mesto hatte er einen guten und soliden Cross-Country-Auftritt. Zudem holte er mit dem zweiten Rang im Short Race erstmals einen Weltcup-Podestplatz. Und in den Sommerrennen, von denen er möglichst viele bestritt, fehlte zwar das Spitzenresultat, aber er sagt zu Recht: «Ich war viel konstanter als letzte Saison.»Nicht zu vergessen sind die zwei Bronzemedaillen, die er mit der Schweizer Staffel an den Welt- und Europameisterschaften in den letzten zwei Wochen gewann, zumal er in beiden Rennen die schnellste Rundenzeit aufstellte. Für den 31-Jährigen waren es die internationalen Medaillen Nummer 16 und 17. Eine Menge Edelmetall, die sich im Hause Litscher seit 2007 angesammelt hat.  Litscher hat an EM und WM 17 Medaillen geholtErreicht er in seinem Karriere-Spätsommer noch die 20. WM- oder EM-Medaille? «Wenn ich in den nächsten zwei Jahren wieder Team Relay fahren kann, ist das möglich», sagt Litscher, «nochmals eine Einzelemedaille wäre schön.»Bis und mit 2022 bleibt er sicher noch Mountainbike-Profi. Sein Vertrag im französischen Team KMC-Orbea läuft zwar aus und Litscher verrät nicht, für welche Farben er in den nächsten zwei Jahren fahren wird. Aber er weiss es offenbar bereits, denn er sagt: «Ich werde weiterhin in einem international starken Team fahren.»