10.01.2019

Der wundersam Verwandelte

Er war sanftmütig und temperamentvoll zugleich – jemand, der nicht anders konnte, als auf Menschen zuzugehen. Am 2. Januar ist Stephan Holderegger im Universitätsspital Zürich gestorben.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererDer Name des Hauses, in dem Stephan Holderegger 1947 zur Welt kam, beschreibt keinesfalls das reale Umfeld, in dem er das erste Lebensviertel zu erleiden hatte. Statt im Paradies lebte Stephan Holderegger unverschuldet in einer Art Hölle.Als Mensch mit seltener, lebensbedrohlicher Krankheit, die erst nach Jahrzehnten korrekt festgestellt wurde, verbrachte der spätere Rhein-Valley-Hospital-Gründer einen grossen Teil seiner Kinder- und Jugendzeit im Sanatorium, verzweifelt oft, in grosser Einsamkeit, die ihn zunächst zu einem Einzelgänger werden liess.Mit der Wucht des Guten den Menschen begegnetErst in den letzten zwei Jahrzehnten fand Stephan Holderegger das Glück. Als personifizierte Leidenschaft bewegte er sich auf die Menschen zu, um ihnen mit der Wucht des Guten die Bereitschaft abzuringen, dort zu helfen, wo er es für dringend nötig hielt. Er dachte in grösseren Dimensionen und trug mit immer wieder ausgefallenen Ideen dazu bei, dass das Rhein-Valley Hospital in Kenia trotz seines jährlichen Betriebsbudgets von 250'000 Franken fortbestehen konnte.Im vor fünf Jahren erschienenen, einstündigen Film «Das Versprechen» ist Stephan Holderegger, der Mann mit dem langen Atem, sehr feinsinnig porträtiert. Zur Sprache kommt darin auch das von ihm einst betriebene Altstätter Reisebüro, dessen Ende vor bald drei Jahrzehnten abrupt besiegelt wurde. Reisende standen am Flughafen Zürich und konnten nicht abfliegen, weil das Reisebüro seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachgekommen war.Zornerfüllt ins Redaktionsbüro gestürmtIch schilderte den Sachverhalt in einem Zeitungsbeitrag, was meine erste eindrucksvolle Begegnung mit Stephan Holderegger zur Folge hatte. Rasend vor Zorn, stürmte der gutmütige Mann in mein Büro, das sich direkt gegenüber dem Reisebüro befand. Er hatte auf dem kurzen Weg zu mir nicht wirklich die Gelegenheit, die Wut zu dämpfen.Damals kannten wir uns erst sehr flüchtig. Dass er (bis zur Transplantation der Lungen 1999) mit der unheilbaren Cystischen Fibrose kämpfte, war mir nicht bekannt. Genauso wenig, dass ihn permanenter Husten plagte. Der einstige Fussballgoalie, der «dank des Sports überlebt» hatte und – wie es im Film heisst – als Torwart «Eiter neben den Torpfosten kotzte», überschüttete mich mit verbalem Eiter, der sich bei der Lektüre meines Zeitungsbeitrags gebildet und nun gelöst hatte.Doch zu meiner grossen Überraschung hatte dieser Auswurf schon nach wenigen Sekunden die Erleichterung zur Folge, die es dem Verärgerten erlaubte, in ein ruhiges Gespräch zu finden, das nach kurzer Zeit sogar harmonisch ausklang. Wir haben nie wieder über die Sache geredet und erst viele Jahre später über das Erlebnis kurz gelacht.Jedes grosse Projekt braucht ein GesichtDas Wirken Stephan Holdereggers in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens ist geeignet, ihn zum Mythos zu erheben, sowieso in Kenia, wo das von ihm gegründete Spital Tausenden Menschen geholfen und vielen das Leben gerettet hat. In der Schweiz setzte er gern auf die Selbstinszenierung, wobei nicht Eitelkeit ihn antrieb, sondern die Erkenntnis, dass jedes ambitionierte Projekt ein Gesicht braucht, um Erfolg zu haben. Und dieses Gesicht konnte kein anderes sein als das seine. Ob in Tageszeitungen, in Magazinen, im Radio oder im Fernsehen: Überall war Stephan Holderegger zu Gast, was dem Spital zugute kam.Das Versprechen, das dem Film als Titel dient, hatte Stephan Holderegger vor der Lungentransplantation gegeben. Nachdem er auf der Intensivstation gelegen und mit dem Tod gerechnet hatte, äusserte er die feste Absicht, sein vielleicht doch noch stattfindendes künftiges Leben mit der Gründung eines Spitals für arme Menschen in deren Dienst zu stellen. Erich Kühnis, der Präsident des Vereins Rhein-Valley Hospital, sagt über Stephan Holderegger, den Vize, das Versprechen habe dieser unverzüglich eingelöst. Von Kühnis stammt zudem der schönste Satz des ganzen Films: Ein Mensch sei nicht an dem zu messen, was mal schiefgelaufen sei.Zufällige Begegnungen mit Stephan Holderegger – auf der Strasse, in einem Laden, im Restaurant – hatten alle eine Gemeinsamkeit. Kein Gespräch, so kurz es auch war, fand ohne einen Hinweis aufs Spital statt. Immer äusserte er eine Idee, einen Wunsch – oder einfach eine Bemerkung. Sich ihm zu entziehen, war so aussichtslos wie der Versuch, es regnen zu lassen. Aber ein Zusammentreffen konnte leicht bewirken, dass die Laune, falls sie nicht schon gut war, besser wurde. Ein Arzt im Film bescheinigt Stephan Holderegger ein bemerkenswertes Naturell; er beschreibt ihn als positiv, immer nach vorn schauend, kontaktfreudig und lebhaft.Als «wilden Cheib» bezeichnet Victor Rohner Stephan Holderegger. Er erzählt im Film ein Anekdötchen. Wie er selbst und jemand anderer auf einem Bänkli sitzen und sein Freund den Einfall hat, von hinten ohne Warnung über sie zu springen. Es passierte, was passieren musste; Stephan Holderegger blieb mit einem Fuss an Victor Rohners Nacken hängen.Er wollte hoch hinaus und hat sein Ziel erreichtOft hat Stephan Holderegger Aufsehen erregt. Die von ihm aus Kenia eingeflogene Showgruppe, die an der Rhema zu sehen war, füllte nicht nur die Halle, sondern gab talauf, talab zu reden.Stephan Holderegger erfand die Besteigung des Kilimandscharo als eine Art Sponsorenlauf, bei dem jeder Höhenmeter Geld einbrachte. Die Bevölkerung blieb bei der Stange, dank Schlagzeilen wie dieser: «Mit neuer Lunge und Ex-Miss auf den Kilimandscharo.» Stephan Holderegger veranstaltete auf dem Gipfel des Berges Schwingkämpfe, Fussballspiele, eine Käsedegustation und andere scheinbare Verrücktheiten.Er wollte hoch hinaus und hat sein Ziel erreicht. Bei allem Ehrgeiz blieb er allerdings bescheiden, und nie wirkte er verbissen, alles tat er mit bewundernswerter Leichtigkeit. Seine regelmässige Teilnahme an Marathonläufen ist für seinen langen Atem exemplarisch, und ein unbeschwert dahin gesagter Satz im Film verdeutlicht, wie weit eine positive Grundeinstellung gehen kann. Als Stephan Holderegger beim New York Marathon mitgelaufen war, liess er beiläufig den Satz fallen: «Trainiert habe ich nicht.»HinweisVon Stephan Holderegger wird am Freitag, 8. Februar, Abschied genommen – im Hotel Sonne in Altstätten; Beginn ist um 17 Uhr. Victor Rohner führt durch die Abschiedsfeier. Sie ist öffentlich und wird vom Verein Rhein-Valley Hospital durchgeführt.