30.05.2021

«Die Jugend hat sich für die Gesellschaft eingesetzt»

Zu Beginn der Pandemie galt die Jugend als kaum betroffen. Erst als die Jugendlichen aufbegehrten, rückten sie in den Fokus – und zuletzt zeigten sich Fachleute wegen ihrer psychischen Gesundheit gar besorgt. Die Jugendarbeiter Sarah Gasser und Jürgen Kratzer von der Jugendarbeit Oberes Rheintal haben eigene Erfahrungen gesammelt.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Jürgen Kratzer und Sarah Gasser, verschiedene Fachleute haben die Frage gestellt, warum die Gesellschaft nicht auch der jungen Generation applaudiert, die am wenigs-ten vom Lockdown profitiert, aber am meisten darunter gelitten habe. Würden Sie ihnen zustimmen?Jürgen Kratzer: Vieles wurde im Zusammenhang mit der Pandemie über die Jugend geschrieben. Nicht selten wurde deren psychische Gesundheit analysiert und dementsprechend gewertet. Klar ist, dass die Krise in manchen Lebenssituationen der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte und sich deshalb gewisse Probleme verstärkten. Umso erfreulicher war es zu sehen, wie sich viele Jugendliche engagiert und diverse Freizeitangebote genutzt haben.Jürgen Kratzer, Leiter Jugendtreff Wie äusserte sich das?Jürgen Kratzer: Es gab beispielsweise beim Frühlingsferienprogramm eine rege Beteiligung der Jugendlichen und auch die spontan entstandenen Projekte unter dem Jahr waren stets gut besucht. Trotz aller Einschränkungen konnten wir sehr viele positive Entwicklungen verfolgen. Die Jugendlichen haben sich arrangiert und sich die weni-gen Möglichkeiten zunutze gemacht. Obwohl es in der offenen Jugendarbeit Pflicht war, eine Maske zu tragen, sich jedes Mal neu zu registrieren und auf verschiedene Angebote zu verzichten, war dies bei den Jugendlichen im Gegensatz zu vielen Erwachsenen kein kontroverses Thema. An dieser Stelle wollen wir den Jugendlichen für die Verantwortung, die sie in der Gesellschaft übernommen haben, ein Lob aussprechen. Es ist uns wichtig, zu erwähnen, dass die Mehrheit der Jugendlichen differenziert und überlegt ihre Meinung äusserte und sich für die Gesellschaft einsetzte. Auch wenn die Jugendlichen nicht mit allem einverstanden waren.Die Pandemie hat das Alltagsleben der jungen Menschen auf den Kopf gestellt. Neuste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das Fehlen der «offenen Räume» als belastender empfunden wurde als beispielsweise das Fehlen der Hobbys. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?Sarah Gasser: Bestimmt war es gemeinhin kein Leichtes, auf Vereinsleben, Sport, Geselligkeit und Kultur zu verzichten. Unabhängig von Ausnahmezuständen wie Corona brauchen Jugendliche Rückzugsmöglichkeiten, wo soziales Lernen untereinander in Gruppen möglich ist. Jugendliche sollen sich mit der Welt handelnd auseinandersetzen können. Persönliche Kontakte und Gespräche haben während des Lockdowns an Bedeutung gewonnen, ebenso der Wunsch nach autonomen Plätzen. Da nun die Vorgaben gelockert werden, blicken auch wir optimistischer in die Zukunft. Viele Jugendliche teilen uns mit, dass sie sich auf die kommenden Projekte (siehe www.jugend-or.ch) freuen und wir spüren ihre Energie und ihren Tatendrang.Sarah Gasser, Sozialpädagogin in Ausbildung (Bilder: pd) Es gibt auch positive Aspekte der Pandemie aus Sicht der Jugendlichen, wie zum Beispiel mehr freie Zeiteinteilung und Selbstorganisation. Wie könnte und sollte die Gesellschaft diese Aspekte aufgreifen?Jürgen Kratzer: Jugendliche müssen immer in ihrem Sein abgeholt werden. Man sollte vermeiden, Negatives und Ängste von Erwachsenen auf die Jungen zu projizieren, sondern sie in Bezug auf ihre Ideen, Ziele, Unsicherheiten, Ängste und Freuden positiv abholen beziehungsweise mit ihnen kommunizieren. Bei mehr Selbstorganisation und freier Zeiteinteilung geht es auch um den Willen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Hier kann die Gesellschaft Möglichkeiten bieten.Junge Menschen sind durch die derzeitigen Machtstrukturen darauf angewiesen, dass Erwachsene sich für sie einsetzen, ihnen Gehör und Möglichkeiten zur Beteiligung verschaffen. Könnte man vermuten, dass wir es mit einem Generationenkonflikt zu tun haben?Sarah Gasser: Generationenkonflikte gibt es in verschiedensten Bereichen durch alle Modernisierungsschübe. Sie sind Teil der Entwicklung von Jugendlichen und so normal wie richtig. Heute breitet sich immer mehr der Wunsch nach Partizipation aus, was heisst, dass sich die jungen Leute selbst arrangieren und handeln. Das hat Potenzial, wobei nicht vergessen werden darf, dass die Jugendlichen durch unterschiedliche äussere Einflüsse und Erwartungen gefordert und überfordert werden.Inwiefern?Sarah Gasser: Sie sind durch die sozialen Medien nicht nur mit ihrer unmittelbaren Umgebung, sondern permanent mit der ganzen Welt verbunden. Wir sind der Ansicht, dass rei-ne Leistungsziele übermässig Raum einnehmen. Jugendliche wollen ihre Freizeit selbst bestimmen – hängen, chillen – und auch mal nichts tun müssen, ohne, dass sie als faul und uninteressiert abgestempelt werden. Auch dieser vermeintlichen «Leerzeit» muss Raum gegeben werden, denn manchmal ist weniger mehr. Selbst in sozialen Kreisen untergraben der Druck nach Selbstoptimierung und die Nötigung zur kontinuierlichen Verbesserung die eigentlichen Wirkungsziele der Arbeit. Hierzu sind die Politik und die Gesellschaft gefordert, sich dieser Entwicklung konstruktiv und kritisch anzunehmen und abzuwägen.Sehen Sie, dass die Politik angesichts dieser Problemlage die Bedürfnisse junger Leute überhaupt stärker in Betracht ziehen kann?Jürgen Kratzer: Die Politik wird im Bereich Jugend permanent gefordert sein. Wichtig ist, dass dieses Gebiet nicht für politisches Kleingeld und populäre Überschriften herangezogen wird, sondern im konstruktiven Sinne und auf Augenhöhe mit sämtlichen Bereichen im Austausch steht. Die Jugendarbeit ist Aufgabe und Werkzeug zugleich, um die junge Bevölkerung und ihre Anliegen zu fördern.Wie könnten Jugendliche Raum zur Mitgestaltung des Krisenmanagements und anderen politischen Entscheidungen, wie der Raumplanung, erhalten? Bietet unsere Demokratie dafür Möglichkeiten?Sarah Gasser: Die Möglichkeiten, Jugendliche in der Gesellschaft besser einzugliedern und bei Entscheidungen teilhaben zu lassen, sind vorhanden. Wichtig ist, die Jugend richtig abzuholen, einzubeziehen und vor allem das gesteckte Ziel gemeinsam zu erreichen. Bei der Jugend zu sparen, wäre ein falscher Ansatz. Es gilt, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Der Gemeinde sollte es stets ein Anliegen sein, ihre nächsten Generationen bestmöglich zu fördern, unabhängig von sozialem Status, Herkunft und Identität. Und nicht zuletzt braucht es auch den Mut, neue Wege einzuschlagen, mit neuen Arbeitsweisen zu experimentieren – auf die Gefahr hin, dass man vielleicht auch mal scheitert.

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