09.08.2019

Die Stadt wusste nicht, was sie am Tram hatte

Der «Gaiserbahn» würde lange nachgetrauert, sollte sie verschwinden. Beim Tram war es nicht anders. Der Trennungsschmerz wirkt bis heute nach. Dabei liegt die letzte Tramfahrt beinahe ein halbes Jahrhundert zurück.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Es ratterte und knatterte. Die Fahrt im Tram war für die Kinder immer viel zu kurz. Vom Rathaus brachte es die Reisenden zum Bahnhof und vom Bahnhof kehrte es zurück. Es hielt direkt bei Chûnrat, einer Statue von Albert Wider, die beim Rathaus stand und die den Kindern dann und wann zum Klettern diente. Nach dem Bau des Hauses der Musik bekam der schwarze Minnesänger dort ein neues Plätzchen.An beiden Enden des Tram-Fahrgastraumes konnte man auf ein bewegliches Metallteil treten, einen Stift mit Deckelchen, was einen hohen, etwas dumpfen Bimmelton zur Folge hatte. Jedes Kind war in Versuchung, diesen Klang fortwährend zu erzeugen, und natürlich sah es keinen Grund, dem Drang zu widerstehen, bis nicht Mutter oder Vater oder sonst ein Reisender, vielleicht der Fahrer, dieses prickelnde Vergnügen jäh beendete.Viele Unfälle wegen SchienenAm 3. Juni 1973 stieg Erwin Walt zum letzten Mal in den Führerstand eines Trams, um dessen Ära würdig zu beschliessen. «Es war», sagt Erwin Walt so kurz und bündig, als bedauerte er heute noch ihr Ende, «eine schöne Zeit.» Sie blieb zumindest für die Kinder noch ein bisschen schön, denn von den letzten Trams kam eines vor das Kinderheim in Steinebrunn, ein anderes bereicherte den Spielplatz des Altstätter Restaurants Schützenhaus. Allerdings waren nur wenige Jahre vergangen, als ein Fotograf sich zur Bemerkung veranlasst sah, das Tram befinde sich bereits in desolatem Zustand.Ich selbst geriet als Kind einmal beim Laden «Blumen Müller» (der dem Kreisel und der neuen Strassenführung weichen musste) mit dem Velo in die Schiene, stürzte und verletzte mich zum Glück nur leicht, indem ich in die kleine Mauer prallte, die zu jener Zeit den Strassenraum begrenzte. Andere Velofahrer hatten weniger Glück und verletzten sich teilweise erheblich. Die verflixten Schienen waren es denn auch, auf denen in der Zeit um 1970 eine Forderung geradewegs ins Rathaus schlitterte. Es ging noch nicht ums liebe Geld, es ging um Sicherheit.Hermann Soller, späterer Direktor des Verkehrsbetriebes, war zu jener Zeit Betriebschef. Er erinnert sich an viele Zwischenfälle auf der Bahnhofstrasse. Im Wochenrhythmus, sagt er, habe sich, oft bei der Abzweigung nach Kriessern, ein Unfall ereignet. Streifkollisionen zumeist, kleine Blechschäden, in aller Regel nichts Ernstes. Erwin Walt erzählt, ein LKW beim Rückwärtsfahren habe mal das Tram gerammt, die ganze Seite sei kaputt gewesen. Anders als ein Bus, fügt Walt hinzu, sei es dem Tram halt nicht vergönnt gewesen, auszuweichen. Auf der schnurgeraden, einen Kilometer langen Bahnhofstrasse kam das Tram den stadtwärts fahrenden Autos auf ihrer Fahrbahn entgegen.Eine Idee betraf einen Tunnel durch den ForstAls in den Achtzigerjahren ein Forsttunnel zur Sprache kam, ging es um die Idee, etwas oberhalb des Städtlis von der Stossstrasse eine Umfahrungsstrasse abzweigen zu lassen. Die Strasse sollte durch einen Tunnel den Forst durchqueren und ungefähr dort in die Oberrieterstrasse führen, wo heute – bei Landi und Aldi – der Kreisel besteht.Der damalige Stadtrat und Seklehrer René Zünd fasst die Reaktion einer breiten Öffentlichkeit mit einem knappen «Jetz spinnet’s» zusammen. Dabei wäre es seines Erachtens ein aus auch heutiger Sicht sinnvolles Projekt gewesen – angesichts der enormen, ungebremsten Zunahme des Individualverkehrs.Schon zwei Jahrzehnte zuvor – in den Sechzigerjahren – war ein Tunnel durch den Forst als Idee vorgebracht worden. Hermann Soller meint, zu jener Zeit sei auch erwogen worden, die «Gaiserbahn» vom Städtli durch den Forst zum SBB-Bahnhof fahren zu lassen, aber sehr ernsthaft dürfte die Diskussion nicht geführt worden sein. Die Appenzellerbahnen wissen jedenfalls nichts von so einem Projekt, was die Idee als sehr flüchtig erscheinen lässt. (Hingegen wurde einst das Projekt einer direkten Eisenbahnverbindung nach St. Gallen durch einen Ruppen-Tunnel ernsthaft diskutiert.)Nach der Einstellung des Trambetriebs fuhr statt der Strassenbahn die «Gaiserbahn» durch die Marktgasse zum SBB-Bahnhof. Doch diese Transitverbindung währte nicht lange; bereits nach zwei Jahren, Ende Mai 1975, wurde der innerstädtische Bahnbetrieb endgültig eingestellt.Die Doppelspur hiess es, sei «eine gemachte Sache»Der Altstätter Augenarzt Guy Jenny hätte es immer als sinnvoll erachtet, die «Gaiserbahn» – statt durch die Marktgasse – vom SGA-Bahnhof der Appenzeller Bahnen den Stadtbach entlang Richtung SBB-Bahnhof fahren zu lassen. Den Schienen-Transitverkehr aufgegeben zu haben, hält der einstige FDP-Kantonsrat noch heute für leichtsinnig. Überhaupt zeuge das Altstätter Strassennetz von einer Vernachlässigung des öffentlichen Verkehrs, dem lange Zeit nicht die ihm gebührende Bedeutung beigemessen worden sei. Auch die im Rheintal nach wie vor fehlende SBB-Doppelspur passt in das Bild. Als Guy Jenny 1974 von Basel nach Altstätten zurückkehrte, habe es vollmundig geheissen, die Doppelspur sei «eine gemachte Sache».Verschwundenes kehrt manchmal wiederWer die Holzklasse des Altstätter Trams oder anderer Schienenfahrzeuge erlebte, dürfte die letztes Jahr vorgebrachte Idee für die Einführung der Holzklasse - das heisst einer dritten Klasse in Zügen - belustigt und mit nostalgischen Gefühlen zur Kenntnis genommen haben. Die Vergangenheit ist allerdings auch sonst schwer loszuwerden, wie ein Beispiel aus dem Sarganserland zeigt.Geni Rohner, ein in Chur lebender Sohn des früheren «Volkszeitung»-Chefredaktors, verfolgt die Berichte und Kommentare zur möglichen Stilllegung der Bahnstrecke Altstätten Stadt-Gais mit grossem Interesse. Mit vielen anderen hofft der Heimweh-Altstätter, dass es nicht so weit kommt. Denn wie sehr eine Stilllegung wie die erwogene sich bedauern lässt, zeigt ein anderes Beispiel, auf das Geni Rohner verweist.Bis 1964 führte von Bad Ragaz nach Wartenstein in der Gemeinde Pfäfers die Wartensteinbahn. 55 Jahre nach ihrem Ende wird nun daran gearbeitet, die Bahn wieder aufzubauen und in Betrieb zu nehmen. Das Vorhaben ist als Teilprojekt ins Tourismuskonzept der St.Galler Standortförderung aufgenommen worden.Mit dem Altstätter Tram und der «Gaiserbahn» verhält es sich wie mit der Wartensteinbahn: Was man hat, erfährt man auf überaus schmerzliche Weise, sobald man es nicht mehr hat. HinweisAm 10. August 2007 rollte in Altstätten dann doch wieder ein Triebwagen ins Städtli. Der Verein historische Appenzeller Bahnen verlegte in Kooperation mit dem einheimischen Modelleisenbahn-Club für den nostalgischen CFe 3/3 eigens ein Gleis vom SGA-Bahnhof, am Frauenhof vorbei, bis in die Marktgasse hinein.