18.09.2019

Ein Lebenswerk, das Mut macht

Pius Böni erlitt 1993 schwere Hirnverletzungen. Eine Selbsthilfegruppe, heute Fragile Ostschweiz, hielt ihn am Leben.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
Vor der Geschäftsstelle in St. Margrethen steht das Auto von Pius Böni. Das Fahren habe er sich zurückerobert, sagt der Präsident der Anlaufstelle für Hirnverletzte und Angehörige. Nach einem schweren Unfall durfte er sich vier Jahre lang nicht ans Steuer setzen, auch an seine Hobbys Motorradfahren und Klettern war nicht zu denken. Heute blickt der 80-Jährige mit Distanz, aber voller Offenheit zurück auf dunkle Stunden, die in ihm den Willen auslösten, etwas ändern und bewegen zu wollen.Das Resultat lässt sich mit dem 20-Jahr-Jubiläum von Fragile Ostschweiz feiern und den angebotenen Dienstleistungen, die Betroffenen helfen, zurück in den Alltag zu finden. Sei es nach einem Hirnschlag, Schlaganfall, Unfall oder Hirntumor. «Ein Fulltimejob», sagt Pius Böni. Und eine Aufgabe, die ihn als Hirnverletzten selber therapierte.Plötzlich aus einem aktiven Leben gerissenDer Unfall ereignete sich in einer Turnhalle, bei einem Faustballturnier, als Pius Böni rückwärts rannte, stolperte und mit dem Kopf wuchtig an einer Betonwand aufschlug. Die Diagnose für den damals 54-Jährigen lautete Schädel-Hirn-Trauma. Ebenfalls musste er zwei Hirnblutungen durchstehen. Auf Krankenhausaufenthalte und monatelange Rehabilitation folgten schwere Depressionen. Für Pius Böni, verheiratet und Vater von drei Söhnen, beruflich als Manager im Logistikbereich tätig, sportlich aktiv und Kommandant in der Betriebsfeuerwehr Rorschach, war nichts mehr wie zuvor. Trotz Unterstützung seiner Familie fühlte er sich «wie ein Nichtsnutz», konnte nicht mehr in den Beruf zurückkehren und wurde IV-Bezüger. Nach Suizidversuchen sagte er sich: «So kann es nicht weitergehen.» Er suchte nach einer Selbsthilfegruppe in der Hoffnung, seine Ängste und Probleme teilen zu können. Da er in der Region nicht fündig wurde, gründete er 1997 mit Hilfe der Dachorganisation Fragile Suisse selbst eine Gruppe, der sich rasch Betroffene anschlossen. 1999 zählte die Gruppe 30 Mitglieder, genug, um eine separate Vereinigung zu gründen.Mittlerweile gehören 1200 Mitglieder Fragile Ostschweiz an, die sieben Kantone und das Fürstentum Liechtenstein vereint. Pius Böni mag es, etwas aufzubauen. Er konnte seine berufliche Erfahrung einbringen und erlebte in den Gruppen einen bereichernden Austausch.Die Depressionen liessen nach, seine Belastbarkeit stieg. Hingegen verlor Pius Böni den Geschmacks- und Geruchssinn und gelesene Texte zu verstehen bereitet ihm – nachdem er lesen, schreiben und sprechen neu lernen musste – Schwierigkeiten. In solchen Momenten hilft ihm seine Lebenspartnerin Magdalena Eggenberger. Sie führt auch die Geschäftsstelle in St. Margrethen und bietet unentgeltliche Sozialberatungen an. Fragile Ostschweiz möchte so viele Hirnverletzte und Angehörige wie möglich erreichen und führt in der Ostschweiz 17 Selbsthilfegruppen, die einmal im Monat unter der Leitung von Moderatoren stattfinden.In der Vereinigung steckt seine ganze EnergiePius Böni baute ein Netzwerk zu den Kliniken Rheinburg, Zihlschlacht und Valens auf. Ebenso liegen Flyer bei Ärzten und Therapiestellen bereit und die Webseite informiert im Detail über das vielfältige Angebot. Pius Böni hält ausserdem Referate, die bei angehendem Pflegepersonal sehr geschätzt sind.«Jede Hirnverletzung ist anders, so wie die Menschen selber auch», sagt er. Es gebe keine Patentrezepte in der Reha, weshalb Erfahrungsberichte umso wertvoller sind. Er wünscht sich, dass die Vereinigung ihre Arbeit wie bisher ausführen kann und die Dienstleistungen noch bekannter werden. Voraussichtlich in zwei Jahren möchte Pius Böni sein Amt seinem vorgesehenen Nachfolger Ruedi Eberhard überlassen. Doch zuerst feiern die Mitglieder das Jubiläum am 26. Oktober im Restaurant Hecht in Rheineck.Hinweiswww.fragile.ch/ostschweiz