Heiden 29.05.2023

Festival möchte einst als ‹Montreux› der Ostschweiz gelten

Über das Pfingstwochenende fand die siebte Ausgabe des Heiden-Festivals statt. Über dreissig Formationen traten auf.

Von David Widmer
aktualisiert am 30.05.2023

Heiden macht am Pfingstsonntag um halb elf noch einen leicht verschlafenen Eindruck – nebst den aufgebauten Ständen an der Seeallee ist von Festivalstimmung wenig zu spüren. Doch es klingt Musik vom Dunantplatz her und beim Näherkommen sind etwa 25 Männer und Frauen zu erkennen, die sich gemeinsam im Rhythmus bewegen. Das Boccadoro Ensemble aus Italien bittet zum Tanzworkshop am diesjährigen Heiden-Festival, das über das Pfingstwochenende stattfindet.

Ob barfuss, Flipflop oder Funktionsschuh: Zum «BalFolk»-Tanzworkshop sind alle herzlich eingeladen.
Ob barfuss, Flipflop oder Funktionsschuh: Zum «BalFolk»-Tanzworkshop sind alle herzlich eingeladen.
Bild: David Widmer

Der junge Mann mit dem gebundenen Zopf fordert die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu auf, den Takt zu spüren, und betont, dass es «immer wichtig ist, loszulassen». Die Tanzenden, eine bunt gemischte Gruppe aus Jüngeren und Älteren, lässt sich darauf ein, und je länger der Workshop dauert, desto natürlicher, organischer wirken die Bewegungen. Es ist ein gewisser Flow zu beobachten.

«Tanzen ist Friedensarbeit»

Der Tanzworkshop gehört zum «BalFolk»-Teil am Festival. Der Begriff könnte mit «Tanzfest» übersetzt werden. Damit ist eine lockere Tanzveranstaltung bei Livemusik gemeint, bei der alle Menschen mitmachen können. Zur «BalFolk»-Szene gehören auch Petra Pastore-Treichler und ihr Mann Ludovico. Wohnhaft in Heiden, sind sie auch dieses Jahr wieder für die Organisation am Dunantplatz verantwortlich.

Ludovico und Petra Pastore-Treichler sind für den «BalFolk» am Festival zuständig.
Ludovico und Petra Pastore-Treichler sind für den «BalFolk» am Festival zuständig.
Bild: David Widmer

Petra Pastore-Treichler sagt: «Diese Art, sich zu Musik zu bewegen, entspricht einem Urbedürfnis des Menschen. Es spielt überhaupt keine Rolle, wer du bist – Ärztin oder Aussteiger, Hippie oder Investmentbanker. Beim gemeinsamen Tanz fallen alle Fassaden.» Ihr Mann Ludovico bringt noch ein anderes Stichwort ins Spiel: Schönheit. «Wenn Menschen zum «BalFolk »zusammenkommen, strahlt dies eine ganz besondere Ästhetik aus, eine Schönheit, die von innen kommt.» 

Eine Bieridee will sich vermarkten

Dass mit dem «BalFolk» eine noch etwas weniger bekannte, aber rasch wachsende Szene am Heiden-Festival präsent ist, passt zur Absicht des OK, die «Neue Volksmusik» zu fördern und bekannt zu machen. Peter Widmer, Verantwortlicher Administration, fasst die Unterschiede zur traditionellen Volksmusik mit einem «Wegkommen von starren Normen zuguns­ten vielfältiger Möglichkeiten» zusammen. Laurent Girard, Intendant und somit verantwortlich für die Zusammenstellung des künstlerischen Programms, spricht einen weiteren Teil der Festival-Philosophie an: «Wir orientieren uns an einem kulturell und musikalisch interessierten Zielpublikum, das ein gewisses Sachverständnis mitbringt.» Damit ist klar: Ein grosses Volksfest mit Bierschwemme und grölenden Massen will das Festival nicht sein.

Der Kern des Organisationskomitees: Laurent Girard (Intendant), Max Frischknecht (Präsident) und Peter Widmer (Administration).
Der Kern des Organisationskomitees: Laurent Girard (Intendant), Max Frischknecht (Präsident) und Peter Widmer (Administration).
Bild: David Widmer

Die Idee zum Festival hat aber im weitesten Sinn doch auch mit Bier zu tun. Sie entstand nämlich an einem Quartierfest zu vorgerückter Stunde. «Eigentlich eine klassische Bieridee», lacht Max Frischknecht, OK-Präsident. Man hätte Heiden als Kulturort wieder aufs Parkett bringen wollen, erklärt er, der im Kurverein ebenfalls als Präsident amtet und damit ein besonderes Interesse an der Vermarktung des Biedermeierdorfs hat. Es sind grosse Visionen, die Frischknecht äussert: «Vielleicht gelingt es, mit unserer künstlerischen Ausrichtung einmal den gleichen Status wie Montreux mit seinem Jazz-Festival zu erreichen.» Intendant Girard gibt zwar zu bedenken, dass Montreux schon noch in einer ganz anderen Liga spiele, trotzdem kann auch er einem solchen Fernziel einiges abgewinnen. Ein Schritt in Richtung nationale Vermarktung wurde denn am «journée neuchâteloise» vom Samstag gemacht. Verschiedene neuenburgische Formationen waren zu Gast, aus­serdem fand eine Direktüber­tragung zum welschen Radiosender RTS 1 statt. «Dass die Radioverantwortlichen danach gleich angekündigt haben, im nächsten Jahr, falls möglich, wieder dabei sein zu wollen, ist uns eine besondere Ehre», freut sich Girard.

Volkstanz, Avantgarde und Kehlkopfgesang

An welches Zielpublikum sich das Heiden-Festival richtet, zeigt sich in der Videoinstallation «Hierig-Heutig» von der Künstlerin Anka Schmid, die im Dunant-Museum zu bestaunen ist. «Es ist ein Werk, das polarisiert, was gewissermassen auch eine Aufgabe zeitgenössischer Kunst ist», sagt Kaba Rössler, Co-Leiterin des Museums. Im sechsminütigen Video tanzt ein Paar den traditionellen Appenzeller Hierig, inszeniert im Avantgarde-Stil, wie man ihn auch von Pipilotti Rist kennt. Den unverkennbaren Soundtrack dazu liefert Yello-Mastermind Boris Blank. «Es ist ein Versuch, zwei ganz verschiedene Welten zusammenzubringen», so interpretiert Rössler das Werk.

Die Video-Installation «Hierig-Heutig» im Dunant-Museum.
Die Video-Installation «Hierig-Heutig» im Dunant-Museum.
Bild: David Widmer

Nochmals eine ganz andere Welt präsentiert die Formation Khukh Mongol, was so viel wie blaue Mongolei bedeutet, bei ihrem Konzert in der evangelischen Kirche. Das siebenköpfige mongolische Ensemble, das seit 25 Jahren im bayrischen Ingolstadt ansässig ist, versetzt das Publikum in Staunen. Die fernöstlichen Klänge mit ihren hier kaum bekannten Instrumenten, wie beispielsweise der zweisaitigen Pferdekopfgeige, faszinieren. Als einer der Musiker zum traditionellen Kehlkopfgesang ansetzt, herrscht ungläubiges Schweigen in der Kirche. Dass eine einzige Person so durchdringend und scheinbar mehrstimmig singen kann, haben wohl erst wenige miterleben dürfen.