Gedenkstätte 04.03.2024

Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus: Bund plant Zentrum zur Fluchtgeschichte

Vor rund einem Jahr sprach sich der Bundesrat für ein nationales Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus aus. Im Mittelpunkt des grenzübergreifenden Projektes steht ein Vermittlungszentrum in Diepoldsau.

Von Davide De Martis
aktualisiert am 05.03.2024

In Diepoldsau soll ein Vermittlungszentrum zum Thema Fluchtgeschichte während der NS-Zeit entstehen, wie die Staatskanzlei des Kantons St. Gallen in einer Medienmitteilung schreibt. Der Bundesrat hatte im Frühjahr 2023 entschieden, ein nationales Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus zu unterstützen. Der Kanton St.Gallen und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund haben nun gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Hohenems strukturelle Grundlagen für die Bereiche Vermittlung und Netzwerk erarbeitet. Das Vermittlungszentrum auf der Rheininsel steht dabei im Zentrum.

Schweizweites Netzwerk für Opfer des NS-Regimes

Das Konzept für das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus sieht drei Elemente vor: Erinnern, Vermitteln und Vernetzen. Der Bereich Erinnern umfasst einen Erinnerungsort, der in Bern realisiert werden soll. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat dazu kürzlich eine Zusammenarbeitsvereinbarung mit der Stadt Bern unterschrieben. Standort, Wettbewerbsverfahren und Planungen werden noch definiert.

Die Bereiche Vermitteln und Vernetzen wiederum werden durch eine Arbeitsgemeinschaft des Kantons St.Gallen, des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), des Jüdischen Museums Hohenems und eines Fachbeirats konzeptionell vorbereitet.

Der Kanton St.Gallen, der Schweizerische Israelitische Gemeindebund sowie das Jüdische Museum Hohenems haben nun erste Grundlagen erarbeitet. Sie möchten für den Bereich Vernetzen einen Trägerverein gründen. In diesem sollen sich viele Partnerinstitutionen engagieren und so als schweizweites «Netzwerk Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus» agieren.

Das Netzwerk soll die Vielschichtigkeit Schweizer Geschichte während der NS-Zeit sowie die unterschiedlichen Schicksale der Opfer und Betroffenen berücksichtigen. Ziel ist die Förderung des Austauschs zwischen den Institutionen und Initiativen in allen Landesteilen. Dazu gehören unter anderem der Wissensaustausch, die Öffentlichkeitsarbeit, Wechselausstellungen, gemeinsame Online-Angebote.

Diepoldsau im Zentrum des Schweizer Memorials

Als Ausgangspunkt des Netzwerks wird ein Vermittlungszentrum im Raum Diepoldsau zum Thema Fluchtgeschichte während der NS-Zeit realisiert. Dieses gilt gemäss Medienmitteilung als Pfeiler des Schweizer Memorials für die Opfer des Nationalsozialismus und integraler Bestandteil des nationalen Netzwerks von Gedenkstätten und Informations- und Vermittlungsorten, dessen Erinnerungsort in der Stadt Bern errichtet werden soll. Das Netzwerk möchte historisches Wissen vermitteln und für die Themen Demokratie, Menschenrechte, Umgang mit Minderheiten und Engagement gegen Antisemitismus sensibilisieren.

Die Paul-Grüninger-Brücke führt von Diepoldsau nach Hohenems. Hohenems
Die Paul-Grüninger-Brücke führt von Diepoldsau nach Hohenems. Hohenems
Bild: acp

Im neuen Vermittlungszentrum in Diepoldsau sollen innovative und digitale Ausstellungs- und Vermittlungselemente an der Landesgrenze angeboten werden, heisst es im Communiqué. Die Besucherinnen und Besucher erfahren am Ort des Geschehens – eingebettet in den historisch-politischen Kontext der Schicksale der Menschen, die vor den Gräueln des NS-Regimes flüchteten.

Jüdisches Museum in Hohenems eng eingebunden

Geprüft wird ebenfalls, inwieweit bestehende Liegenschaften des Zolls genutzt werden können. Das Jüdische Museum Hohenems (Vorarlberg) wird die Planung und der Betrieb des Vermittlungszentrums aufgetragen. So könnten fachliche und betriebliche Synergien genutzt werden, schreibt die Staatskanzlei weiter.

Den Besucherinnen und Besuchern des Vermittlungszentrums bietet sich zudem die Möglichkeit, im benachbarten Hohenems sowohl im Jüdischen Museum als auch anhand des baulichen Erbes der einstigen jüdischen Gemeinde, weitere Aspekte der jüdischen Kultur und Geschichte zu erleben.

Das Jüdische Museum habe in den vergangenen Jahren unter anderem mit der Realisierung eines grenzüberschreitenden Radwegs zum Thema Flucht europaweit für Aufmerksamkeit gesorgt, schreibt die St.Galler Staatskanzlei. Seitens der umliegenden Länder bestehe bereits ein Interesse, sich am Vermittlungsangebot an der Landesgrenze zu beteiligen.

Bedürfnisse im Bildungsbereich werden berücksichtigt

Neben der internationalen Vernetzung sei auch die breite fachliche Abstützung zentral, heisst es in der Medienmitteilung weiter. Ein wissenschaftlicher Beirat unterstützt die Umsetzung. Im kommenden Juni ist an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen eine Fachtagung mit gesamtschweizerischer Beteiligung geplant. Der Bildungsbereich wird in das Projekt eingebunden. Damit sollen die Bedürfnisse von Schulen und Lehrpersonen früh abgedeckt werden.

Die Erarbeitung der strukturellen Grundlagen für den Bereich Vermittlung und für das Netzwerk erfolgt im Rahmen der vom Bundesamt für Kultur vorgegebenen Bedingungen, um das Projekt im Rahmen der Kulturbotschaft 2025 bis 2028 des Bundes zu realisieren und zu finanzieren.

Der Bund prüft nun die Auslegeordnung. Die weiteren Beschlüsse von Bundesrat und Parlament seien im Verlauf dieses Jahres zu erwarten, teilt die St.Galler Staatskanzlei mit. Im Anschluss erfolge eine abschliessende Eingabe, die die Mitfinanzierung durch Kantone und umliegende Länder im Detail umfasst.

Rheintal als Fluchtort im Zweiten Weltkrieg

Das Rheintal war insbesondere nach dem sogenannten Anschluss Österreichs ab März 1938 Schauplatz dramatischer Ereignisse im Zusammenhang mit geglückten und gescheiterten Fluchtversuchen vor dem Terror des Nationalsozialismus. Es bestehen enge Bezüge zum Fall des mittlerweile international bekannten St.Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger (1891–1972). Dieser rettete Hunderte jüdische und andere Flüchtlinge vor der Verfolgung und dem Holocaust. In den Folgejahren verschoben sich die Schwerpunkte der Fluchtbewegungen je nach politischen und kriegerischen Ereignissen zu anderen Abschnitten der Landesgrenze. 1945 stand mit den Grenzübertritten von einstigen Zwangsarbeitenden und Kriegsgefangenen das Rheintal schliesslich wieder für kurze Zeit im Fokus. (ddm)