12.08.2019

Gratis-Tests für Sexarbeiterinnen

Der Arzt eines HIV-Patienten kontaktierte das Bordell, in dem der Mann gewesen war. Das brachte viel ins Rollen.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Der Arzt ist Pietro Vernazza, Chefarzt und HIV-Forscher am Kantonsspital St. Gallen. Der Club, in dem sein Patient gewesen war, befindet sich in Au.Vernazza rief dort an, hatte Heidi am anderen Ende der Leitung. Das ist ungefähr vier Jahre her. Sie war zu jenem Zeitpunkt die stellvertretende Chefin.Heidi, die sich generell so vorstellt, wenn es um das Sexgewerbe geht, trat am Freitagmittag zusammen mit dem St. Galler Chefarzt im Altstätter Res­taurant Frauenhof auf und sprach wie dieser zum Thema «Gesundheit – auch beim Sex».Gefahr für die öffentliche GesundheitDer Kontakt der beiden führte zum Einbezug Prostituierter in ein grösseres landesweites Projekt mit über 3000 Tests, bei dem sich zeigte: Von den 600 getesteten Sexarbeiterinnen hatte jede fünfte eine sexuell übertragbare Krankheit, ohne von dieser zu wissen. Aids hatte niemand.Werden infizierte Sexarbeite­rinnen nicht behandelt, ist das nicht nur für sie selbst gefährlich. Freier können die Krankheit in ihre Familien bringen. Vernazza findet es entsprechend wichtig, den Frauen den Zugang zu Tests zu erleichtern und sie finanziell zu unterstützen.An Vernazzas Idee, präventiv Gratis-Tests anzubieten, soll die Kantonsärzteversammlung nicht sonderlich interessiert gewesen sein. Offener war der kantonsärztliche Dienst. Inzwischen hat der Kanton einen Kredit von 60000 Franken für die Labortests gesprochen. Im Vordergrund steht die Früherkennung von Tripper und Syphilis. Es geht aber auch um andere Geschlechtskrankheiten wie die verbreitete bakterielle In­fektionskrankheit Chlamydien. Kondome verringern bei all diesen Krankheiten das Ansteckungsrisiko, schliessen es aber nicht aus.Die ersten Test im Auer EtablissementDer Auer Club, in dem Heidi beschäftigt war, bot sogleich Hand. Er ist das erste Etablissement im Kanton, in dem Tests durchgeführt wurden. Ab diesem Monat ist das neue Angebot kantonsweit institutionalisiert: Alle Sexanbieterinnen haben nun die Möglichkeit, sich gratis alle drei Monate kostenlos testen zu lassen – entweder an ihrem Arbeitsort oder in einer von derzeit zehn mitwirkenden Arztpraxen.Die Bordellbetreiber, aber ebenso die selbstständig tätigen Sexarbeiterinnen, wurden in den letzten Wochen über das neue Angebot mit einem Schreiben informiert. Mit Salons in Altstätten, Au und St. Margrethen ist das St. Galler Rheintal sozusagen ein Ballungszentrum – wie der Raum Rapperswil-Jona oder Sargans. Die Zahl der Frauen, die im St. Galler Rheintal für Geld sexuelle Dienste anbieten, schätzt Heidi auf «wohl über 80», schliesslich korrigiert sie: «vielleicht 100 und mehr». Ein Problem sei das Totschweigen; es werde so getan, als gehe niemand hin, «die Läden laufen aber gut». Die noch immer breit verankerte Vorstellung vieler, bei Bordellen handle es sich um dreckige Hinterzimmer, sei sehr weit weg von der Wirklichkeit.Im Rheintal spielt die Nähe zur Landesgrenze insofern eine besondere Rolle, als Etablissements in Vorarlberg verboten sind. Das heisst zwar nicht, dass jenseits der Grenze kein käuflicher Sex zu haben wäre, aber das Verbot trägt zweifelsfrei zu einer höheren Zahl von Vorarlberger Freiern hierzulande bei. Den Anteil der aus Österreich stammenden Kundschaft schätzt Heidi auf die Hälfte – oder sogar etwas mehr.Heidi, die im Raum Zürich in dieser Branche begann und zuletzt die Hälfte ihrer zwölf Sexgewerbe-Jahre in Au verbrachte, begrüsst das neue Hilfsangebot umso mehr, als es unkompliziert ist. Weil viele Prostituierte sich nur kurz an einem Ort aufhielten und oft weiterzögen, nütze sie ein Arzttermin in zwei, drei Wochen in der Regel nichts. Insofern komme ihnen entgegen, dass sie ab sofort die Möglichkeit hätten, spontan eine der mitmachenden Arztpraxen aufzusuchen. Die Medizinische Praxisangestellte macht den Abstrich – und fertig.Nach Altstätten war Vernazza als Nationalratskandidat gekommen – mit dem Velo, im Rahmen einer fünftägigen Tournee. Dass sein Besuch also Werbung in eigener Sache bedeutete, dürften die Besucherinnen und Besucher nach den ersten Sätzen schon vergessen haben.