Wen sprechen Sie heilig? Oder wen haben Sie schon längst heiliggesprochen?
In meiner Jugend habe ich meine allerliebste Grosstante Lina und meinen Vetter Andres heiliggesprochen. Und spreche heute noch mit ihnen. Bei ihnen in den Ferien zu sein, war für mich Himmel auf Erden. Das Leben war damals schon einfach: vier Kühe im Stall, ein Dutzend Hühner. Aber wenn meine liebe Tante mir vom Fünfpfünder eine Scheibe Brot abschnitt, mit Butter und Honig bestrich und mir – dem Zehnjährigen – liebevoll über mein Haar strich und einen «Gueten» wünschte, das war der Himmel auf Erden.
Und wenn ich mit meinem Vetter und den vier Kühen in meinen zu grossen Stiefeln zur Weide stapfte, er unterwegs ein Johanniskraut abriss – er machte daraus seine «Andres»-Salbe für verletzte Kühe – war das für mich der Himmel auf Erden.
Die Verwandten schimpften nie
Klopfte ein Bettler an die Haustür, so kaufte meine liebe Tante selten etwas. Vielleicht ein Paar Schuhbändel. Aber sie lud ihn in die Küche zu einem Beggeli, Kaffee oder einem Glas Most ein. Die beiden schimpften nie mit mir – auch nicht, als ich einmal den Milchkrug ausleerte. Sie schimpften auch nie über andere Leute.
Der Sonntag war Feiertag. Am Vorabend, nachdem die Glocken um 16 Uhr den Sonntag eingeläutet hatten, wurde nur mehr das Nötigste erledigt.
Dann rasierte sich Andres in der Küche. Natürlich gehörte der Kirchgang zum Programm. Und nach dem Mittagessen spielte er auf dem Ofenbänkli in der Stube auf dem «Muulörgeli». Die beiden blieben auch vor Ungemach nicht verschont. Aber ich hörte sie nie jammern.
Das allerschlimmste Erlebnis war für die beiden, als ihr zweijähriges Grosskind Beatrice im Brunnen vor ihrem Haus ertrank. Sie hatten nicht bemerkt, dass die Kleine aus der Küche ins Freie gesprungen war.
Tante Lina und Vetter Andres sind längst gestorben.
Sie waren für mich ‹s’Wunder›. Ich rede heute noch mit ihnen. Tante Lina lächelt mir zu, und Andres zwinkert mit dem linken Auge. Sie warten auf mich.
Und ich freue mich, sie «im Himmel» wiederzusehen. Ganz gleich, wie das sein wird. Unvorstellbar. Doch mein Herz ahnt: Liebe stirbt nicht.
Allerheiligen – Allerseelen! Was anderes ist das als das Fest der Zuversicht: Liebe stirbt nicht. Die Tage laden dazu ein, mit unseren Heiligen zu sprechen, damit ihre Liebe im Herzen wachbleibt und so in uns die Zuversicht wächst. Wir sind und bleiben eine Familie, wir noch Lebenden und die lieben Verstorbenen. Gottlob.
Liebe, die den Tod überdauert – Erinnerungen an Tante Lina und Vetter Andres