Die Verabschiedung des zehnfachen Weltmeisters Nino Schurter lockte 20'000 Menschen ins selbsternannte Bike Kingdom. Sie feierten nach dem Rennen auch Thomas Litscher, Linda Indergand und Downhillerin Camille Balanche, die ebenfalls das Bike an den Nagel hängen. Litscher war bereits mit und gegen Lindas Bruder Reto Indergand gefahren. Viele weitere Freundschaften hat der Thaler in seinen 16 Jahren im Weltcup gesammelt. Die meisten Weggefährten sind schon zurückgetreten – von den Kollegen der ersten Stunde fährt nur noch Mathias Flückiger. Bei der Abschiedsfeier vor dem Teamzelt kommt auch Jaroslav Kulhavy, früherer Weltmeister und Olympiasieger 2012, auf ein Bier vorbei.
Wie lautet die Überschrift, wenn Sie die eigene Karriere bilanzieren?
Es war immer ein Auf und Ab. Aber ich habe in jedem Jahr ein paar Resultate herausgefahren, die mich darin bestätigt haben, bis jetzt weiterzumachen. Das beste Beispiel dafür ist das Jahr 2017: Vor der Saison fand ich kein Weltcup-Team und fuhr im Schweizer Nachwuchsteam JB Brunex Felt. Die Saison war nicht gut, aber zum Abschluss wurde ich Dritter an der Cross-Country-WM in Australien. Ich bin zufrieden mit dem, was ich erreicht habe.
Die angesprochene WM-Medaille und der U23-WM-Titel vor 14 Jahren in der Schweiz waren die grössten Highlights?
Es gab immer wieder Highlights. Ich fuhr fast jedes Jahr mindestens einmal in die Top10, holte 2022 auch im Short Track die WM-Bronzmedaille und wurde 2024 Schweizer Meister. Noch dieses Jahr gewann ich EM-Silber. Aber es gibt sicher Erfolge, die einen besonderen Stellenwert haben. Die Goldmedaille in der U23-Kategorie an den Weltmeisterschaften in der Schweiz ist etwas, das mir nie jemand wird wegnehmen können.
Sie sind einer von drei Schweizer Männern, die in der Neuzeit eine WM-Medaille gewannen, standen aber immer im Schatten von Nino Schurter und auch Mathias Flückiger
Nino hat den Mountainbikesport auf ein anderes Niveau gehoben, dagegen bin ich niemand. Aber in jedem anderen Land, ausser Frankreich, wäre ich vielleicht der Mountainbike-Star Nummer 1. Die Schweiz war bisher verwöhnt, aber es zeigte sich in den letzten zwei Saisons, dass die Dominanz bröckelt. Die Rennen werden allgemein immer ausgeglichener und somit auch spannender.
Warum kommen so viele Schweizer an die Weltspitze?
Wir sind uns von Anfang an gewöhnt, gegen harte Konkurrenz im eigenen Land zu fahren, das stärkt die Leidensfähigkeit. Ein Nachwuchstalent in einem anderen Land, das alle nationalen Rennen gewinnt, erlangt diese Härte vielleicht nicht.
Sie hatten mehrmals Schwierigkeiten, Teams zu finden, auch 2022 vor dem Wechsel zum polnischen Team Kross, hing Ihre Karriere an einem seidenen Faden...
Ja, das ist so. Aber mit der Unterstützung von Sponsoren ging es immer auf, dass ich als Profi meinen Sport ausüben konnte. Es gibt zwei grosse Schweizer Teams, Scott und Thömus. Bei denen waren bzw. sind Nino Schurter und Mathias Flückiger und dazu noch ein paar jüngere Schweizer. Dadurch fuhr ich meist für ausländische Teams.
Ist das ein Nachteil?
Das würde ich nicht sagen, ich hatte es nicht schlecht in meinen Teams und habe viel gelernt. Es gibt gewisse kulturelle Unterschiede, zum Beispiel in der Arbeitsweise, im Vergleich zu einem Schweizer Team. Aber diese Unterschiede können auch ein Vorteil sein, man lernt andere Sichtweisen kennen und schätzen. Was alle Teams, für die ich fahren durfte, gemeinsam hatten, war ein guter, sehr familiärer Zusammenhalt.
Ihr letztes Engagement war ab diesem Jahr bei einem neuen Schweizer Team geplant. Dort wurde aber weniger verlässlich gearbeitet als in allen ausländischen Teams. War das Team, das nur in den Fantasien der Teamgründer existierte, die grösste Enttäuschung Ihrer Karriere?
Alle, die dort unterschrieben haben, gingen voll motiviert in den Winter. Ein Schweizer Team ist für einen Schweizer ein Luxus: Die Kommunikation ist einfacher, das Material schnell zu besorgen. Wenn du als 35-Jähriger für die letzten zwei Jahre deiner Karriere unterschreibst, und dann merkst du, dass es gar kein Team gibt – das zieht einem den Boden unter den Füssen weg.
Dass Sie dennoch eine Saison anhängten, ist bezeichnend für Ihren Kampfgeist.
Ich bin froh, dass ich die Saison noch gefahren bin – Anfang Jahr aufzuhören, wäre nicht der richtige Weg gewesen. Ich habe nochmals eine EM-Medaille gewonnen und konnte zumindest im Short Track zeigen, dass ich vorne mithalten kann. Im Cross Country war es im Weltcup zäher, aber ein Top-15-Platz und weitere Rennen um Top20 sind bei der aktuellen Leistungsdichte nicht schlecht. Dazu kamen Siege in gut besetzten UCI-Rennen in Haiming (Tirol) und Obergessertshausen (Bayern).
Die Einführung des Short Tracks war gut für Sie.
Ich brauchte einige Zeit, bis ich erfolgreich war, warum weiss ich auch nicht. Als eher schwerer Athlet mit grosser Tret-Kapazität kommen mir die kurzen Strecken entgegen, auch weil ich mich gut im Feld bewege und die Lücken erkenne.
Diese Stärken hätten Ihnen auch auf der Strasse genützt, warum strebten Sie nie den Wechsel an?
Ich hätte als junger Fahrer die Chance gehabt und hätte mich auf der Strasse sicher auch durchgesetzt. Dort hätte ich wohl mehr verdient, aber wäre sicher nicht so lang gefahren. Ein Mountainbiker geniesst mehr Freiheit als ein Strassenfahrer, der ein weitgehend fremdbestimmtes Leben führt. Mathieu van der Poel sagte ja an den Weltmeisterschaften im Wallis gegenüber dem SRF, seine Leidenschaft sei das Mountainbike. Auch Olympiasieger Tom Pidcock hat sich schon ähnlich geäussert.
War die Leidenschaft zum Sport auch beim kleinen Team Cabtech aus Tschechien zu spüren, wo sie in Ihrer Abschiedssaison Unterschlupf fanden?
Auf jeden Fall. Unser Teamchef Pavel Cabelicky hat sein Bestes gegeben, aber er musste für vier Fahrer einkaufen und kochen, das Teamzelt auf- und abbauen und die Bikes in Stand halten. Ich habe versucht, ihn ein wenig zu entlasten, wo es ging, indem ich Einkäufe erledigt, gekocht oder die Bikes für den Service vorbereitet habe. Das ist natürlich nicht vergleichbar mit einem grossen Team wie Specialized, Trek oder Cannondale, wo Köche, zwei Physios, zwei bis drei Mechaniker und noch ein Technical Coach arbeiten. Dadurch können sich die Athleten aufs Rennen fahren konzentrieren. Bei der hohen Leistungsdichte im Weltcup können die paar Prozent Energie, die Fahrer so in einer Weltcup-Woche sparen, entscheidend sein, ob es für eine Top-Rangierung reicht.
Bei den Schweizer Rennen wurden Sie oft von Ihrer Freundin Marielle und Thorsten Krawanja als Physio und Mechaniker unterstützt.
Ja, dafür bin ich beiden sehr dankbar. Gerade dieses Jahr wäre es ohne diese Hilfe gar nicht gegangen, sogar im Team waren sie froh, dass Thorsten und Marielle dabei waren. Thorsten arbeitet als Teamleiter Gesundheit im Sportzentrum Herisau, es war für ihn nicht immer einfach, die Renntermine wahrzunehmen. Man verbringt an Rennen und während der An- und Abreise viel Zeit miteinander, da ist es schön, wenn man sich gut kennt und versteht.
Ihr erstes Profiteam war Multivan-Merida, das Ende 2012 mit Ihnen und Ondrej Cink die zwei damals letzten U23-Weltmeister verpflichtete. Bei der Bekanntgabe schrieb das Team sinngemäss, man wolle mit diesem Duo Absalon und Schurter angreifen
Das habe ich so gar nicht mehr in Erinnerung, aber bei Transfermeldungen wird doch immer übertrieben. Zum Teil konnten wir das aber: Ich führte mal ein Weltcuprennen mit einer Minute Vorsprung vor Absalon an, bevor mich ein Defekt zurück warf. Aber das Team löste sich vier Jahre nach meiner Verpflichtung auf, weil sich Merida aus dem Mountainbikesport zurückzog.
Würden Sie etwas ändern, wenn Sie könnten?
Ich würde einiges anders machen als in den Jahren bei Merida, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte. Als junger Fahrer setzte ich mich selbst zu sehr unter Druck, Wenn es nicht lief, trainierte ich immer mehr. Ich hätte aber, wie viele junge Fahrer, ein Team benötigt, das sagt: «Tom, mach mal ruhig». Mein Trainer war damals Bruno Diethelm (Nationalcoach bis 2022), mit ihm arbeitete ich gut zusammen. Als aber die Resultate ausblieben, bekamen Ondrej und ich vom Team einen Trainer zugeordnet, der nicht unbedingt zu uns passte. Nach der Zeit bei Merida war ich körperlich kaputt, ich brauchte einige Zeit, bis ich mich davon erholt hatte.
Zogen Sie Lehren daraus?
Ab diesem Zeitpunkt verpflichtete ich meinen Trainer immer selbst, in den letzten vier Jahren fuhr ich unter Manuel Fasnacht. Eine Zeit lang habe ich mich auch selbst trainiert. Das klappte gut, aber ein objektiver Blick von aussen ist meist doch ein Vorteil. Ausserdem spart es wertvolle mentale Ressourcen, wenn man sich nur auf die Umsetzung der vorgegebenen Trainings konzentrieren kann und nicht noch zusätzlich Zeit in die detaillierte Auswertung und Planung investieren muss.
Ihre Zukunft ist noch nicht geregelt, machen Sie sich Sorgen?
Bis Ende Oktober habe ich noch verschiedene Verpflichtungen, unter anderem organisiere ich zum elften Mal eine Bike-Woche im Südtirol mit vielen Rheintaler Stammgästen. Im November, spätestens im Januar möchte ich in meinen neuen Berufsalltag starten. Meine kaufmännische Lehre auf der Gemeindeverwaltung Thal liegt bereits einige Jahre zurück, sodass ich erst in verschiedenen Bereichen schnuppern möchte, um für mich das Passende im heutigen Arbeitsmarkt zu finden. Die Gedanken um die Jobsuche bescheren mir schon ein paar schlaflose Stunden in der Nacht.
Seit dem Frühling sind Sie Präsident des RV Altenrhein. Dem Radsport bleiben Sie daher erhalten.
Das Engagement im RV Altenrhein ist ein Ehrenamt, wo ich aber sicher meine Erfahrungen aus dem Rennsport einbringen kann. Wir haben schon einige Fortschritte gemacht, so ist die sonntägliche Ausfahrt um 10 Uhr ab Rheineck mittlerweile sehr gut besucht. Unser Tourenchef plant abwechslungsreiche Routen, wenn es das Training zuliess, habe ich mich gerne angeschlossen. Dazu bieten wir seit Neustem neben dem Kids-Training am Mittwochnachmittag ein Rennfahrer-orientiertes Training für Jugendliche an.
Fahren Sie nur noch zum Spass oder auch noch Rennen?
Ich möchte mir auch nach der Karriere noch sportliche Ziele setzten. Wenn es in diesem Winter genügend Schnee gibt, trainiere ich vielleicht in Gais und Heiden für den Engadiner Skimarathon. Und wenn ich bis zum nächsten Sommer nicht zehn Kilo mehr habe, würde es mich reizen nochmals an den Schweizer Meisterschaften im Short Track zu starten.
Mountainbike-Profi Thomas Litscher blickt nach seinem letzten Rennen auf Erfolge und Rückschläge zurück