Darauf, dass Fredy Amweg im Martini-BMW in Oberhallau geschlagen würde, hätte wohl kaum jemand gewettet. In der Zeitung stand damals: «Der Faden ist gerissen». Für einmal konnte sich nicht der Bergkönig als Tagessieger ins goldene Buch eines Schweizer Bergrennens eintragen lassen. Nein, 1990 gehörte diese Ehre Erwin Steingruber, dem «Übervater» des Bergsprints Walzenhausen. Mit seinem zehn Jahre alten Formel-2-March-BMW 802 wurde Steingruber der erste und bis heute einzige Appenzeller Tagessieger an einem Schweizer Bergrennen.
Das Bergrennen von Oberhallau im Kanton Schaffhausen ist anders als die anderen Rennen jener Zeit. Die flache, kurze Rennstrecke in den Rebbergen kennt andere Gesetze als die wesentlich längeren Strecken von Vuiteboeuf oder St.Ursanne-Les Rangiers. Zudem hatten massive Regenfälle Teile der schmalen Strecke derart unterspült, dass diese an drei Stellen mit Pylonen und Strohballen verengt werden musste. Dies veränderte zumindest an einem Ort die Ideallinie massiv, was Favorit Fredy Amweg nicht entgegenkam.
Steingruber gelang es, die Ideallinie zu finden
Stunden später war der Bergkönig tatsächlich geschlagen. Erwin Steingruber fand die neue Ideallinie an den Pylonen und Strohballen vorbei am schnellsten. Begünstigt wurde sein Erfolg zudem von einem besonderen Mentor: Der ehemalige internationale Formel-3-Fahrer, Motorsport-Buchautor und Formel-1-TV-Reporter Jürg Dubler unterstützte den Walzenhauser. Dubler und Steingruber gingen nach jedem Lauf die Strecke akribisch durch. Dublers Ratschläge klangen so: «Dort früher bremsen, um danach schon im Scheitel der Kurve besser zu beschleunigen. Dort aussen bleiben und sanft einlenken.» Zudem leistete sich Steingruber am Sonntag vor dem ersten Rennen erstmals neue Reifen.
Jeder Mensch hat einen besonderen Tag im Leben – Erwin Steingruber hatte an diesem Wochenende gleich zwei davon. So hatte der Amriswiler Fredy Amweg schon im Training Mühe, alle vier Trainingsläufe gingen an Steingruber in seinem nicht mehr taufrischen Wagen. In den Rennläufen legte Amweg zu, doch dies gelang auch Steingruber. Dieser war im ersten Lauf deutlich schneller als Amweg – Letzterer fuhr im zweiten Lauf jedoch gleich schnell wie Steingruber. Nur fuhr der Walzenhauser im zweiten Lauf nochmals schneller und der Bergkönig wurde um 1,26 Sekunden geschlagen.
Während Steingruber seinen ersten grossen Sieg feierte, wurde Amweg im Gesamtklassement sogar nur Dritter. Der Aargauer Ruedi Caprez hatte sich mit seinem bulligen Formel-3000-Wagen ein erstes Mal am Berg versucht und dies erstaunlich gut gemacht. Schon im Training liess er sein 450-PS-Ungetüm zur Freude der Fans fliegen. Der Garagist aus Bremgarten verpasste danach den Tagessieg um nur fünf Zehntel.
Die Wichtigkeit, es richtig laufen zu lassen
Erwin Steingrubers Sieg jährt sich heuer zum 35. Mal. Der Sieg hat sich auch im Gedächtnis vieler Rennfahrerkollegen eingeprägt, immer wieder wird davon erzählt. So auch der damalige Formel-3-Fahrer Hansueli Christen, der sagte: «Wir standen oben im Ziel und schauten Erwin Steingruber in den letzten Kurven zu. Ich griff mir in die Haare und dachte: das geht nicht. Die Welschen schrien: ça ne va pas! Erwin fuhr, ja flog am äussersten Limit durch die Kurven.» Der Pilot selbst sagte: «Wenn du Fredy Amweg schlagen willst, musst du es richtig laufen lassen.» Und der Geschlagene? Er nahm die Niederlage mit Fassung, sagte: «Ich gönne meinem Ostschweizer Freund den Sieg. Zudem haben die Journalisten mal etwas anderes zu schreiben.»
Zwei Jahre später beendete Steingruber seine Karriere, ganz ohne Motorsport kann er aber doch nicht leben. Ende 1986 fand das letzte Bergrennen Walzenhausen-Lachen statt, 1990 das letzte von St.Peterzell nach Hemberg. Steingruber befasste sich mit einem neuen Rennen von Büriswilen nach Schachen, doch sein Herz brannte für das Walzenhauser Rennen. So findet seit 2007 – immer vor Oberhallau – alle drei Jahre der historische Bergsprint Walzenhausen-Lachen statt. An dessen Spitze steht als OK-Präsident der unermüdliche Oberhallau-Sieger von 1990, Erwin Steingruber.
Vor 35 Jahren holte Erwin Steingruber einen historischen Sieg