Lutzenberg 07.11.2022

«War wegen Kokain im Loch»: Tino erzählt, wie er in die Abhängigkeit rutschte - und herausfand

Mit 13 fing Tino an zu kiffen. Dann kamen Kokain, MDA, Codein und Alkohol dazu. Schliesslich wies er sich selbst in eine Entzugsklinik ein. In der Reha Lutzenberg will er Tritt fassen.

Von Malena Widmer
aktualisiert am 07.11.2022

Tino (Name geändert) sitzt frühmorgens mit einer Tasse Kaffee im Besprechungszimmer des Rehabilitationszentrums Lutzenberg und erzählt von seiner Vergangenheit. «Anfangs habe ich nur gekifft», sagt er. Damals war er 13. Doch dann sei er immer tiefer reingerutscht. Kokain, MDA, Codein und Alkohol kamen dazu, er musste die Lehre abbrechen, wurde zu Hause rausgeschmissen und fing an, zu dealen. «Ich lebte nur noch von Tag zu Tag», sagt Tino. Er zog zu einem Kollegen und verbrachte so ein halbes Jahr:

Man macht schnell Geld und ist immer drauf. Aber es war dann doch nicht so geil, wie man es sich vielleicht vorstellt.


Tino wies sich dann selbst in die Entzugsklinik ein. «Mir wurde irgendwann, wie bei einer Erleuchtung, klar, dass es so nicht weitergehen kann», erklärt er.


Zuflucht in kriminellen Kreisen

Doch wie kam alles so weit? Tino fängt ganz vorne an und erzählt von seiner Kindheit. Seine Eltern lebten getrennt, er war von klein an oft allein. Vor allem die Abwesenheit des Vaters habe ihm zu schaffen gemacht. Gezwungenermassen beschäftigte er sich viel mit sich selbst und distanzierte sich dann auch von der Mutter. In kriminellen Kreisen habe er Zuflucht gesucht und gefunden. Dort sei er angenommen worden. Die Kollegen, die er dadurch fand, hätten alle auch Drogen konsumiert, sagt Tino. Als er dann nach einem Streit mit der Mutter bei den Kollegen einzog, sei sein Konsum exzessiver geworden. Er tauchte zwei Wochen lang unter und liess nichts von sich hören. Daraufhin wurde sein Lehrvertrag aufgelöst. «Ich war wegen Kokain im Loch», erklärt Tino.

Als er sich schliesslich selbst einwies, verbrachte er zuerst drei Monate in einer Psychiatrie in Wil. Während Tino davor exzessiv verschiedene Rauschmittel konsumiert hatte, fand er sich auf einen Schlag ohne vor. Der erste Monat sei besonders schlimm gewesen: «Die Nächte waren lang und schlaflos, ich war depressiv und die Lebensmotivation fehlte mir; es war kurzum alles unerträglich.» Nach dem ersten Monat habe er sich aber besser und freier gefühlt: «Ich war nicht mehr gefangen in meinem Kopf.»

Das Leben in der Reha Lutzenberg

Nach dem Entzug in Wil kam er in das Rehabilitationszentrum Lutzenberg. Hier ist der mittlerweile 20-Jährige seit 15 Monaten. Während es in der Klinik in Wil um den Entzug und das Erarbeiten psychologischer Stabilität ging, ist in der Reha zusätzlich die Reintegration ins Berufs- und Sozialleben zentral.

Tino befindet sich jetzt im ersten Jahr seiner Lehre im Betriebsunterhalt und arbeitet fünf Tage pro Woche. Die Lehre gefällt ihm: «Es ist schön, dass ich Verantwortung übernehmen kann und merke, dass ich gebraucht werde.» Das zweite und dritte Lehrjahr wird Tino dann voraussichtlich in einem externen Betrieb absolvieren können. Ein grosser Pluspunkt der Lehre ist, dass er sie mit seiner Therapie kombinieren kann. Da Tino schon länger in der Reha ist, besteht die Therapie momentan nur noch aus einem Einzelgespräch und einem Psychologengespräch jede Woche. In regelmässigen «Reha-Checks» bespricht er zudem mit dem Fachpersonal, wo er gerade steht, und setzt sich mit ihnen zusammen neue Ziele.

Monica Sittaro ist die Leiterin des Rehabilitationszentrums Lutzenberg. Sie sagt:

Tino ist mitten im Training. Er hat einen guten Lauf mit allen Schwierigkeiten, die dazugehören.

Auch Tino sagt: «Ich bin seit 550 Tagen sauber von chemischen Substanzen.» Es habe während der 14 Monate, in denen er in der Reha sei, jedoch schon Momente gegeben, in denen er wieder zu Rauschmitteln gegriffen habe. Nicht mehr zu Kokain, dafür zu Alkohol und Cannabis.

Abstinenzunterbrüche sind normal

Dass es während der Rehabilitation mehrmals wieder zu Konsumereignissen kommt, sei aber üblich, so Sittaro. Bei den wenigsten würde die Abstinenz einfach so funktionieren. Wichtig sei, wie auf diese Abstinenzunterbrüche reagiert werde, sagt Sittaro. Die Klienten sollen aus den Vorfällen lernen, um so ein nächstes Mal in ähnlichen Situationen besser reagieren zu können. Solche Konsumereignisse zu verhindern, sei einfacher, wenn die Klienten eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung hätten, sagt Sittaro. So laufen sie weniger in Gefahr, wieder in alte Muster zurückzufallen, sobald sie freie Zeit für sich zur Verfügung haben.

Aber die Verfügbarkeit von illegalen Substanzen nimmt zu und für ehemalige Abhängige ist es schwierig, der Drogenszene auszuweichen. Sittaro erklärt: «Früher konnte man der Szene ausweichen, wenn man bestimmte Orte mied. Heute wird an der Schule, im Job und an so vielen anderen Orten konsumiert. Oder man kann sich den Stoff einfach mit der Pizza mitliefern lassen.»
Soll Cannabis legalisiert werden?

In diesem Kontext ist auch Cannabis ein wichtiges Thema. «Soll es legalisiert werden?» – Nein, findet Tino. Er begründet das mit seinen Erfahrungen. Viele würden immer früher mit illegalen Rauschmitteln anfangen, erzählt Tino. Er selbst sei ja einst einer dieser jungen Konsumenten gewesen:

Was viele dabei reizt, ist, dass es illegal ist. 

Er fragt sich, was dann mit denjenigen geschehen würde, die es deswegen konsumieren. Seine Vermutung: Sie würden wohl auf härtere, weiterhin illegale Substanzen umsteigen.

Arbeiten ausserhalb der Reha

Das ist aber nicht mehr länger Tinos Welt. Er hat neben seiner Lehre im Betriebsunterhalt nun auch ein Hobby gefunden. Er trainiert zweimal in der Woche in einem regionalen Fussballverein und spielt an den Wochenenden Partien.

Monica Sittaro freut sich über sein Engagement. «Er treibt Sport, ist in einem Verein, hat eine Lehrstelle und macht enorme Fortschritte», sagt sie. Tino hat vor, seine Ausbildung im Betriebsunterhalt weiterzuverfolgen und so zukünftig auch ausserhalb der Reha arbeiten zu können. Bis dahin bleibt ihm zwar noch Zeit, es ist erst im nächsten Sommer so weit. Er freut sich aber jetzt schon darauf.