11.08.2018

Wunderheiler oder Buhmann

René Breu, der Leiter der Sozialen Dienste im oberen Rheintal, geht demnächst in Pension - nach 35-jährigem Wirken als Chef. In all der Zeit war eines immer wieder klarzustellen: „Die Sozialen Dienste sind nicht das Sozialamt.“

Gert BrudererAls erstes kommt der 62-Jährige, der am 31. August seinen letzten Arbeitstag hat, auf eine Unterstellung zu sprechen, die Schlagzeilen machte. Den vermeintlichen Lederjacken-Skandal. Der war bezeichnend für ein Vorurteil, das aus der Welt zu schaffen nie gelang.Zu einer Zeit, als das ehemalige Ausbildungszentrum des Zivilschutzes Flüchtlingen als Unterkunft diente, ging das Gerücht, in Altstätten bekämen Flüchtlinge teure Lederjacken aus dem Fachgeschäft bezahlt – ob von den Sozialen Diensten oder vom Fürsorgeamt: egal, für viele war das sowieso dasselbe. Die Geschichte mit den Lederjacken war der blanke Unsinn, aber manchmal glauben Menschen eben, was sie glauben wollen.SDO-Klienten zahlen Steuern wie alleRené Breu sagt, nach wie vor sei in der Öffentlichkeit die Meinung verbreitet, die SDO würden Menschen mit Geld unterstützen. Bei 70 bis 80 Prozent der erwachsenen Klienten gehe es zwar auch um Geld, doch immer um ihr eigenes. Ein Beispiel: Jemand ist psychisch krank und nicht mehr in der Lage, sein Vermögen selbst zu verwalten, weshalb die SDO dem betroffenen Menschen mit einer Beistandschaft helfen. Möchte nun der Klient etwas Grösseres anschaffen, ist das Einverständnis bei den Sozialen Diensten einzuholen. Geben diese ihr Okay, bezahlt der Klient, was er kaufen darf, selbst.Die Menschen, die ohne SDO finanziell nicht zurechtkämen, zahlen denn auch Steuern - nur, dass viele von ihnen den damit verbundenen Aufwand nicht selbst erledigen können, sondern die SDO diese Aufgabe erfüllen. Rund 200 Steuererklärungen haben die SDO letztes Jahr ausgefüllt. In allen Oberrheintaler Gemeinden und somit im Verbandsgebiet der SDO kamen so 423000 Franken an Steuern zusammen. Allein in Altstätten bezahlten SDO-Klienten dem Staat insgesamt 227000 Franken.Deutlich ausgedrückt: Die SDO-Klienten, Schweizer zu 75 Prozent und grossmehrheitlich „Mehr-Generationen-Schweizer“, sind keine Sozialfälle. Wobei René Breu sogleich korrigierend eingreift, indem er sagt: „Das Wort ist schrecklich, denn ein Mensch ist nie ein Fall.“Unvernunft muss keinDauerzustand seinEtwa die Hälfte der Klienten sind Erwachsene, wobei die Zahl der Minderjährigen im Verhältnis wächst und sich in Richtung 60 Prozent bewegt. Vor allem setzen sich die SDO für diese Minderjährigen im Rahmen von Erziehungsbeistandschaften ein. Den Auftrag hierzu erteilt ihnen jeweils (wie jeden Auftrag) die Kesb, also die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Auch mit ihr, sagt René Breu, würden die SDO immer wieder fälschlich gleichgesetzt.Genauso sehr wie in den Köpfen mancher Leute Hans was Heiri ist, wenn Mitmenschlichkeit im Zentrum einer Arbeit steht, werden die SDO dann und wann „für alles verantwortlich gemacht“, was irgendjemandem nicht passt. Es gibt Eltern, die nach einer Scheidung erklären, „das Kind wegzunehmen, kommt nicht in Frage“ - aber, sagt Breu, „sie tun alles dafür, dass man genau das leider tun muss“.Immerhin: Wer uneinsichtig ist, muss es nicht bleiben, und so erfahren die Sozialen Dienste manchmal auch das Glück, dass die Beziehung zwischen zerstrittenen Eltern sich plötzlich entspannt. Dazu tragen, wenn auch eher selten, die Eltern selbst bei, aber oft hilft auch die gute Vernetzung der gemeinsam helfenden Organisationen, die Durchleuchtung des Familiensystems und realistische Ziele, die schrittweise Wende zum Guten. Das nützt auch den SDO, die, wie Breu sagt, in all den Jahrzehnten nie eigene Anwaltskosten gehabt hätten.Dass sie in der Lage waren, ihre Position auch bei Rechtsstreitigkeiten immer selbst erfolgreich zu vertreten, liegt nicht zuletzt am Weiterbildungsdrang des Leiters, der sich oft, auch an den Wochenenden, mit dem Recht beschäftigte.Druck entstehtvon allen SeitenSchön sei sein Job, sehr spannend, vielseitig und hochinteressant. Aber andererseits auch belastend. Druck entstehe oft, gelegentlich von allen Seiten, „in meinem Beruf wirst du von oben und unten, von links und von rechts anders wahrgenommen“, sagt Breu, der auch schlaflose Nächte erlebte. Druck werde erzeugt über Anwälte, Nachbarn, Bekannte, im schlimmsten Fall auch über soziale Medien. Zuweilen äusserten sich Kritiker auch primitiv, wobei nicht ausgeschlossen sei, dass denen, die im Unrecht sind, die primitive Ausdrucksform als letztes, wenngleich nutzloses Mittel dient.Jeden Mittwoch Morgen treffen sich alle zehn SDO-Beistände, um die aktuellen Widrigkeiten zu besprechen. Probleme aller Art, auch Drohungen sind dann das Thema. René Breu sagt: „Würde jemand Aussenstehender die Sitzung miterleben, wäre fraglich, ob er nachher einen Zmittag wollte.“Die erfreulichste Zahl, die René Breu vorweisen kann, ist 85.Etwa so viele Prozent aller Klienten, sagt er, liessen sich gut betreuen und begleiten. Auch wenn man sich reibe und Widerstand zwangsläufig vorkomme – die überwiegende Mehrheit sei unter dem Strich für die Hilfe der SDO dankbar. Auf dem Weg zur Lösung von Problemen zeigt sich immer wieder, Einsicht kann das gleiche wie der Glaube, auch Einsicht kann ab und zu Berge versetzen.Der Aufwand iststark gestiegenRené Breu hat in Altstätten auf der Gemeindeverwaltung die kaufmännische Lehre gemacht, kurz in der Finanzverwaltung gearbeitet und dann zur damaligen Oberrheintalischen Amtsvormundschafts- und Fürsorgestelle (OAF) gewechselt, zunächst als Sekretär, wie der Sachbearbeiter früher hiess. Zugleich war er Leiter des Fürsorgeamts, seit 1985 gab es die Sozialen Dienste unter dem heutigen Namen (siehe Kasten), die René Breu von Beginn weg führte.Das Verbandsgebiet wuchs, die Zahl der Mitarbeitenden stieg von anfangs drei auf achtzehn. Der administrative Aufwand sei stark gestiegen, sagt Breu, was manche Gründe hat. Der Datenschutz hat heute einen viel höheren Stellenwert, und der verstärkte Drang zum Prozessieren verlangt nach Schriftlichkeit in jeder noch so kleinen Angelegenheit. Unkomplizierte Klärungen am Telefon, die früher gang und gäbe waren, wären zu riskant, alles ist abzusichern und jedes Mandat unweigerlich an ein schnell umfangreiches Dossier geknüpft. Und schliesslich gibt es die Erwartung der Gesellschaft, die sich gegenüber früher zwar nicht stark gewandelt, aber sicher zugespitzt hat. René Breu erlebt das so: Entweder ist heute ein Beistand „ein Wunderheiler oder der Buhmann“. Für den Chef gilt das sowieso.-----------------------------------------------Soziale Dienste,gesetzlich und freiwilligDie Sozialen Dienste (SDO) bieten der Bevölkerung der Zweckverbandsgemeinden gesetzliche und freiwillige Sozialberatung an. Zur gesetzlichen Sozialberatung gehört die Führung von Mandaten im Kindes- und Erwachsenenschutz sowie die Inkasso-Hilfe und Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen. Im Rahmen der freiwilligen Sozialberatung beraten die SDO in verschiedenen Lebenssituationen, auch Budget- und Schuldenberatung gehören dazu.Die Wurzeln der SDO gehen bis ins Jahr 1974 zurück. Damals wurde die Oberrheintalische Amtsvormundschafts- und Fürsorgestelle (OAF) von den Gemeinden Altstätten, Rüthi und Rebstein gegründet. Mitte 1990 wurde der Zweckverband Soziale Dienste Oberes Rheintal als Nachfolgeorganisation der OAF gegründet. Zudem traten die Gemeinden Eichberg, Marbach dem Zweckverband bei, vor gut zwei Jahren auch Oberriet. (pd/gb)