Ein 17-jähriger Junge ist tot. Er wurde am frühen Freitagmorgen, dem 11. Juli 2025, schwer verletzt und blutend am Bahnhof Heerbrugg aufgefunden – in einer Region, die auch meine Heimat ist. Er war Asylsuchender aus Algerien, untergebracht im Bundesasylzentrum Altstätten. Die Polizei spricht von einem Gewaltverbrechen. Der 17-Jährige erlag kurze Zeit später seinen Verletzungen. Vielleicht war er kriminell. Vielleicht hat er Fehler gemacht. Ich weiss es nicht – und will niemanden in Schutz nehmen.
Aber was ich gesehen habe, unter den Artikeln auf Facebook, in den Kommentarspalten grosser Schweizer Medien: lachende Smileys, hämische Bemerkungen, offene Verachtung. Ein 17-jähriger Mensch stirbt – und darunter wird gespottet, relativiert, gewertet, als ginge es um eine Randnotiz. Ein Mensch ist getötet worden – und was folgt, ist Häme, Spott, moralische Kälte. Als wäre das inzwischen normal geworden.
Ich weiss, dass es Missbrauch im Asylsystem gibt. Ich rede nichts schön. Aber darüber entscheiden nicht wir – und schon gar nicht anonyme Profile, die im Schutz der Distanz hetzen. Niemand verlässt Heimat, Familie, Sprache einfach so. Flucht bedeutet: Angst haben. Keinen anderen Ausweg mehr sehen. Wer das nie erlebt hat, sollte nicht so schnell urteilen. Und schon gar nicht mit Hass im Herzen. Was mich heute erschüttert hat, war nicht nur die Tat – sondern wie kalt viele darauf reagierten. Diese Lust am Abwerten. Dieser Reflex, sofort zu richten, wo eigentlich erst einmal ein Innehalten nötig wäre.
Ich empfinde tiefe Fremdscham. Nicht, weil Menschen kritisch denken. Sondern weil so viele jede Menschlichkeit verloren haben. Weil wir Mitgefühl verlieren – und es nicht einmal mehr merken. Und wer sich von diesen Gedanken angegriffen fühlt: Mit solchen Menschen will ich nichts mehr zu tun haben. Ich stehe für Menschlichkeit – auch da, wo sie unbequem wird. Das ist nicht die Art Mensch, die ich sein will. Und nicht die Gesellschaft, in der ich leben möchte.
Shqipton Rexhaj, Montlingen
«Ich empfinde tiefe Fremdscham»: Rexhaj macht sich Gedanken zum Umgang mit der Gewalttat