Mägenwil, Rüti bei Büren oder Morges gehören normalerweise nicht zu den Orten, an denen jugendliche Rheintalerinnen und Rheintaler ihre Freizeit verbringen. Fabio Fernandes Gil kennt sie jetzt alle, waren sie doch Ziel- und Startorte seiner beeindruckenden Reise quer durch die Schweiz. Zu allen kann er Geschichten erzählen. Sie klingen dann so:
In Mägenwil war mir total schwindlig», «In Rüti bei Büren bin ich fast umgekippt», oder aber auch «Nach Morges spürte ich richtig viel Kraft und Motivation.
Fabio Fernandes Gil ist von Berneck nach Genf gejoggt. 395 Kilometer in zehn Tagen mit nur zwei Tagen Pause dazwischen. Das bedeutet, jeden Tag beinahe einen Marathon zu laufen. Es ist die Geschichte eines Jugendlichen, der sich etwas in den Kopf gesetzt und dies dann auch hartnäckig umgesetzt hat, allen Widerständen und eigenen Gedanken zum Trotz. Und es ist die Geschichte von einem Scherz, aus dem Wahrheit wurde.
Influencer zu werden, ist nicht sein Berufsziel
Geht die Zeit an der Oberstufe zu Ende, müssen alle Schülerinnen und Schüler eine Projektarbeit einreichen. Als in Fabios Klasse davon die Rede war, sagte ein Freund scherzhaft zu ihm:
Jogge doch nach Genf!
Weil er mitbekommen hatte, dass Fabio gern joggt, dass er sich gern hohe Ziele steckt.

Ein Berufsziel vieler Jugendlicher dieser Zeit ist, Influencer zu werden. Als solcher wird eine Internet-Bekanntheit bezeichnet, die davon leben kann. Fabio will das nicht, er wechselt nach der Oberstufe in Heerbrugg ein paar Gebäude weiter an die Kanti. Aber auch er verfolgt Influencer – etwa den türkischen Extremsportler Arda Saatçi. Dieser wurde für seinen Ultramarathon von Berlin nach New York weltbekannt, zurzeit ist er in Japan unterwegs, wo er 3000 Kilometer joggend zurücklegen will. «Er hat mich inspiriert und motiviert. Ich dachte, nach Genf zu joggen, sei eine gute Erfahrung, die mich physisch und psychisch weiterbringt», sagt Fabio Fernandes Gil.
Ein 70-Kilometer-Lauf und Kompressionssocken
Der 15-Jährige ist sportlich. Im Team Rheintal spielt er Fussball, auch das Fitnesscenter besucht er regelmässig. Fabio ist fit, sehr sogar – dennoch brauchte diese Herausforderung auch eine besondere Vorbereitung.
Ich bin einmal nach Rorschach und zurück gejoggt, das war etwa eine Marathonlänge. Danach ging es an einem Tag nach Liechtenstein und zurück, etwa 70 Kilometer. Als ich das geschafft hatte, begannen auch meine Schulfreunde zu glauben, dass ich es nach Genf schaffen könnte.
Und zur Vorbereitung gehörte auch, sich mit neuem Material zu beschäftigen. Mit Laufschuhen oder mit Kompressionssocken, dank denen die Durchblutung der Beine besser funktioniert. Sie sind im Laufsport gang und gäbe, auch Fabio nahm sie mit auf den langen Weg.
An einem Samstag begann dieser zu Hause in Berneck, die erste Etappe führte bis St. Gallen, wo ihn seine Eltern abholten und am nächsten Tag wieder an den exakten Ort der Abholung brachten, um die Route nicht zu verfälschen. Tag zwei führte von St. Gallen nach Wängi TG, von dort ging es weiter nach Embrach. «Unterwegs haben mich Polizisten angehalten und gefragt, ob ich schon in Elsau joggen gewesen sei. Als ich ihnen von meinem Plan erzählt hatte, waren sie fasziniert.»
Tage vier bis sechs laufen nicht wie am Schnürchen
Der erste Block war geschafft, es folgte ein Tag Pause, ehe es bis Mägenwil AG weiterging. «Nach 30 Kilometern ging es mir richtig schlecht, es war heiss, es ging bergauf und am Ziel war mir total schwindlig», sagt Fabio. Es war eine mühselige Etappe, ehe es bis Egerkingen wieder besser ging. «Kurz vor Schluss war die Motivation wieder voll da», sagt er über Tag fünf.
Abschnitt sechs war wieder ein Auf und Ab, in Rüti bei Büren BE war er «komplett kaputt», fast umgekippt. In dieser Phase entwickelte sich Fabios Mind-Set weiter. Die Läufe waren teils langweilig, er habe viel Zeit gehabt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das sei oft schön gewesen, jedoch nicht immer.
Ich habe auch manchmal gedacht, ich hätte keine Lust mehr. Aber dann dachte ich wieder, ich sei jetzt schon so weit gekommen, dass ich einfach nicht aufhören kann, mein Ziel zu verfolgen.
Fabio lernte unterwegs nicht nur die Schweiz, sondern auch sich selbst kennen. Er stellte sich oft Fragen, er haderte, er raffte sich auf, er freute sich.
Eiskaltes Wasser, schöne Aussichten und viel Regen
«Ich habe auf dem Weg andere Seiten der Schweiz gesehen, vor allem den Westen. Da gefiel es mir sehr gut, auch in Winterthur und Solothurn», sagt Fabio. In Solothurn stiess Fabios Vater dazu, die Familie verbrachte das Wochenende miteinander.

Von Rüti bei Büren lief Fabio bis Murten, dann über den Röstigraben nach Moudon VD. «Da gab es ein Problem: Ein Weg war plötzlich gesperrt und ich hatte die Wahl, ob ich über die Bahngleise rennen soll oder durch einen Fluss.» Er entschied sich für den Fluss, obwohl das Wasser eiskalt war.
Auf dem Weg nach Morges, an den Genfersee, verliess ihn die Kraft. «Es war hügelig und es ging nur bergauf und bergab. Aber in Lausanne war die Motivation zurück. Die Aussicht über den See war super und ich wusste, dass es bis ans Ziel nur noch ein Tag war.» Obwohl es am Tag darauf fast durchgehend regnete, legte er die längste Etappe zurück und kam wohlbehalten an. «Ich hatte, abgesehen von den letzten zehn Kilometern, richtig gut Kraft.»
Mit 21 Jahren will er einen Ironman bestreiten
Bei der Ankunft in Genf fühlte Fabio sich stark, stolz, zufrieden. Er bekam sehr viele Rückmeldungen, auch von seiner Lehrerin. Alle staunten, alle gratulierten. Die Leere, die sich nach der Erfüllung eines so grossen Ziels einstellen kann, gab es nicht. Im Gegenteil: Der 15-Jährige steckt sich nächste Ziele. Er sagt, er komme nun in die Kanti, wo er am Ende eine Maturaarbeit machen müsse. «Vielleicht renne ich dann einmal quer durch Portugal», sagt Fabio.

Weiter will er im Alter von 21 Jahren einen Ironman bestreiten. Im Schwimmtraining ist er bereits, bald kommt das Rennrad dazu. Die Fähigkeit, seine Ziele zu erreichen, bringt der «Bernecker Arda Saatçi» mit dem unerschütterlichen Fokus auf das Ziel mit.
Was in der Schule als Scherz begann, wurde zum Lauf seines Lebens